„PISA hat einen schlechten Ruf, weil Österreich schlecht ist“

PISA kann man nicht überschätzen, sagt Wilhelm Vukovich von der EU-Kommission. Er übt Kritik an der Trennung der Kinder mit zehn Jahren.

Die Presse: Kann man die Bedeutung des  PISA-Tests überschätzen?

Wilhelm Vukovich: Nein, das kann man eigentlich nicht. Natürlich darf man nicht zu viel hineininterpretieren. PISA sagt eben nur über gewisse Dinge etwas aus. Aber eines ist klar: PISA hat in Österreich einen schlechten Ruf, weil Österreich schlecht ist. Ich kann Ihnen sagen, dass sich die EU-Kommission die Ergebnisse sehr wohl genau anschaut.


Österreich lag beim bisher letzten PISA-Test im Bereich Lesen nur knapp vor der Türkei. Ist Österreich für die EU-Kommission ein Sorgenkind?

Sorgenkind ist übertrieben. Das größte Problem, das Österreich im Bildungsbereich hat, ist mit Sicherheit die starke Bildungsvererbung. Es sind vor allem sozial benachteiligte Kinder und Migranten, die den Aufstieg einfach nicht schaffen – es sei denn, sie werden Fußballer. Österreich wird in diesem Zusammenhang immer gerügt, was die sehr frühe Trennung der Kinder mit zehn Jahren betrifft.


Wird die frühe Trennung aus Ihrer Sicht berechtigterweise kritisiert?

Ja. Ich weiß, dass die diesbezügliche Diskussion in Österreich eine heftige ist. Es wurden die ideologischen Schützengräben schon vor langer Zeit gezogen. Dabei ist eine hohe Durchlässigkeit im System sehr wichtig. Es wurde zwar die Neue Mittelschule (NMS, Anm.) geschaffen, das ändert aber nichts daran, dass die Schüler schon im Alter von zehn Jahren eine solch weitreichende Entscheidung treffen müssen.


Wann sollen Schüler denn Ihrer Meinung nach getrennt werden?

Eine generelle Empfehlung der EU-Kommission gibt es nicht. Aber wir predigen schon immer, dass eine Trennung mit zehn Jahren zu früh ist.


Zurück zu PISA: Haben Sie den Eindruck, dass die Ergebnisse in Österreich ignoriert werden?

Sowohl in Österreich als auch in Deutschland hat es zu Beginn von PISA einen Schock gegeben. Es ist bekannt, dass Österreich viel in Bildung investiert. Natürlich stellt sich die Öffentlichkeit dann auch die Frage, wie es sein kann, dass zwar viel Geld ausgegeben wird, aber die Leistung nicht stimmt.


Im Gegensatz zu Österreich hat Deutschland auf diesen Schock sofort reagiert.

Ich glaube, dass es aber auch in Österreich in die richtige Richtung geht. Man hat die Bildungsstandards eingeführt und mit etwas Verzögerung wird es auch schon bald eine Zentralmatura geben. Das sind Schritte, die sicherstellen sollen, dass alle Schüler auf ein gewisses Level kommen. Es ist eine Art Qualitätskontrolle. Das Problem ist: Es dauert Jahre, bis sich die neue Politik auch in den Ergebnissen abzeichnet.


Sie haben die NMS bereits angesprochen. Ist diese ein gelungenes Projekt?

Um das bewerten zu können, würden mich die Ergebnisse der NMS bei den Bildungsstandards, die bislang unter Verschluss gehalten werden, interessieren. Aber eines muss man sagen: Der Ansatz war gut. Mit der Neuen Mittelschule wurde versucht, die Kluft ein bisschen zu verringern.


Eine gute schulische Ausbildung ist auch für die wirtschaftliche Performance eines Landes entscheidend. Könnten die Mängel im österreichischen Bildungssystem nicht auch bald für Österreichs Wirtschaft zum Problem werden?

Unstrittig. Wenn man sich vor Augen hält, dass PISA zeigt, dass jeder Vierte nicht sinnerfassend lesen kann, dann ist das schon erschreckend. Aber bislang zählt Österreich ja zu den EU-Ländern mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit.


In Österreich führt man das vor allem auf die gute duale Ausbildung – also die gleichzeitige Ausbildung in einem Betrieb und einer Berufsschule – zurück. Ist es berechtigt, dass sich Österreich dessen rühmt?

Das österreichische Bildungssystem hat tatsächlich einen großen Vorteil: Es ist vergleichsweise stark auf die Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet. Ein großer Teil der österreichischen Jugendlichen ist in der beruflichen Bildung und genießt eine Lehre. Das hilft, die Jugendarbeitslosigkeit gering zu halten.


Die geringe Jugendarbeitslosigkeit allein darauf zurückzuführen, würde aber völlig zu kurz greifen.

Es wäre weit gefehlt, das eins zu eins miteinander zu verbinden. Natürlich hat die geringe Jugendarbeitslosigkeit vor allem mit dem wirtschaftlichen Wachstum in Österreich zu tun. Aber: Wenn ein Land eine starke Berufsbildung hat und die Ausbildung verstärkt auf die Beschäftigungsfähigkeit auslegt, dann bringt das auch etwas. In Europa gibt es leider viele Länder, die am Arbeitsmarkt vorbei ausbilden.


Hat dieses österreichische Modell auch Nachteile?

Es hat natürlich auch eine Kehrseite. Das österreichische System zeigt am anderen Ende  – also bei den über 50-jährigen Arbeitnehmern – Schwächen. Dass man junge Leute berufsspezifisch ausbildet, führt teilweise dazu, dass diese auf ihrem späteren Berufsweg Probleme haben. Man kann heutzutage nämlich nicht mehr davon ausgehen, dass man einen Beruf ein Leben lang macht. Es gibt immer mehr Leute, die den Beruf des Öfteren und manchmal auch in höherem Alter wechseln.

("Die Presse", Printausgabe 30.11.2013)

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