Andreas Schleicher hält die europäische Bildungspolitik mit linker Ideologie auf Trab. Er schadet damit PISA.
Wer gegenüber Journalisten den Vorwurf hegt, sie alle schrieben doch bloß voneinander ab, der würde in einer Recherche zu Andreas Schleicher Bestätigung finden. Egal, ob „Süddeutsche“, „Spiegel“ oder schlicht Wikipedia – es gibt da dieseeine Geschichte, ohne die der Werdegang des großen PISA-Erfinders offenbar nicht erzählt werden kann.
Wahrscheinlich, weil sie so klischeehaft schön ist, dass sie einfach wahr sein muss. Sie lautet wie folgt: Im Jahr 1974 fügte das deutsche Schulsystem Schleicher eine nachhaltige Kränkung zu. Sein Grundschullehrer stufte ihn damals als ungeeignet für das Gymnasium ein, und hätte sein Vater – ein Erziehungswissenschaftler – nicht insistiert und den Sohn an einer Waldorfschule untergebracht, wäre es das wohl gewesen mit der Karriere. So aber legte Schleicher sein Abitur mit dem Notenschnitt von 1,0 ab, studierte Physik und entwarf Jahre später für die OECD den PISA-Test, als dessen mächtiger Interpretator er heute die halbe europäische Bildungspolitik auf Trab hält.
Wäre Schleicher senior überdies nicht Professor, sondern – wie heißt es an solchen Stellen immer so schön – ein „einfacher Arbeiter“ gewesen: Das Märchen vom gesellschaftlichen Aufstieg durch höhere Bildung wäre perfekt.
Falsche Schlussfolgerungen
Auch so hat es für den 1964 geborenen Schleicher zum Ideologen gereicht. Aufgrund seiner Erfahrungen sei er zum vehementen Gegner eines differenzierten Schulsystems und Gesamtschulfan geworden, heißt es. Woher Schleichers Überzeugungen rühren, sei dahingestellt – diskussionswürdig ist vielmehr, wie er mit ihnen umgeht: Er kann mit seiner Meinung einfach nicht hinter dem Berg halten.
Das passt erstens nicht ganz zu dem klischeehaften Bild, das man als Österreicher von einem nüchternen deutschen Statistiker haben mag. Es ist – zweitens – vor allem aber problematisch, wenn er als Macher der bekanntesten internationalen Schulstudie im Drei-Jahres-Rhythmus über die Leistungsfähigkeit von 65 Bildungssystemen weltweit Gericht hält.
Der Hauptvorwurf: Schleicher versuche konsequent, Datenmaterial mit Schlussfolgerungen zu versehen, die dieses einfach nicht zulässt. So wieder geschehen bei der PISA-Präsentation in der Vorwoche. Da war Schleicher nämlich von Ministerin Claudia Schmied eigens via Videotelefon aus Washington zugeschaltet, um live vor der Presse die Neue Mittelschule zu loben.
Er interpretiert damit die Daten sehr frei. PISA liefert nämlich nicht nur keine Aussagen darüber, wie gut ein differenziertes oder gemeinsames Schulsystem ist. Die Schüler, die zuletzt getestet wurden, haben zudem die Neue Mittelschule gar nicht erlebt. Die Schulform befand sich damals in den Kinderschuhen. Schleichers Antwort auf entsprechende Nachfragen der Journalisten war mager: Seine Befunde seien eben „eher eine Projektion auf die Zukunft als ein Bericht über den Status quo“.
Ferndiagnose für Schweden
Auch anderswo eckt er an: Während man in Schweden den Grund für den Absturz bei PISA 2012 in der Einheitsschule sieht, die möglichst viele zur Matura führt und dabei die Schulunlust jener fördere, die nicht für höhere Bildung geeignet sind, erklärte Schleicher kurzerhand die Privatisierung des schwedischen Schulsystems zum Sündenbock. Negatives über die Gesamtschule mag er nicht. Deutschland überlegte nach Schleichers einseitiger Kritik am differenzierten Schulsystem gar einmal den OECD-Ausstieg.
In Österreich spielt Schleicher aber eine besondere Rolle. Er gilt als Vertrauter von Nochministerin Schmied. Er soll es gewesen sein, der sie überzeugte, PISA 2009 „unter Vorbehalt“ zu veröffentlichen. Wir erinnern uns: Ein Schülerboykott soll die Zahlen verfälscht haben. Das Bildungsinstitut BIFIE, das PISA in Österreich durchführt, war damals anderer Meinung: Die Stichprobe sei groß genug, und die Zahlen seien trotz Boykotts valide, habe man Schmied versichert. Diese folgte aber Schleichers Rat. Kolportierter Grund: Dass Österreich so drastisch abrutschte, sei für die OECD ein Problem, habe Schleicher im Vertrauen erklärt. Ein solch plötzlicher Absturz innerhalb von nur drei Jahren würde die Methodik von PISA an sich in Zweifel ziehen. Die „Vorbehaltsklausel“ lieferte eine willkommene Ausrede.
Der Schuss ging nach hinten los. Die an sich durchaus wertvollen PISA-Daten werden heute vielleicht kritischer beäugt als zuvor. Die Mission, auf der sich Andreas Schleicher befindet, wird wohl dafür sorgen, dass es so bleibt.
AUF EINEN BLICK
Andreas Schleicher leitet die Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat für Bildung bei der OECD. Der deutsche Statistiker entwickelte ab 1995 die internationale Bildungsstudie PISA, die im Jahr 2001 erstmals präsentiert wurde und die er bis heute koordiniert.
Die PISA-Studie misst die Leistung von 15- und 16-jährigen Schülern in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2013)