Auch die „chronisch normalen“ Schüler haben Bedürfnisse

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Nicht nur Kinder mit Behinderung haben Bedürfnisse, auf die die Schule Rücksicht nehmen müsse, sagt Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze. Sie fordert „neutralere“ Beratung bei der Schulwahl.

Wien. Einzelkinder, Scheidungskinder, Kinder, die in irgendeinem Bereich besonders begabt sind oder solche, die zeitweise mit Gipsfuß in der Schule sitzen: In einem inklusiven Schulsystem geht es eigentlich längst nicht nur um Kinder mit Behinderungen. Es gehe um alle, sagt Marianne Schulze, die die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Österreich überwacht und bei der Uni-Wien-Konferenz „Wege zur Inklusion“ sprach.

„Hundert Prozent der Kinder haben das Recht, in eine Schule zu gehen, die ihre Begabungen fördert und sie unterstützt, wo sie es brauchen“, sagt Schulze im Gespräch mit der „Presse“. „Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es am einen Ende der Skala die Hochbegabten gibt, am anderen Ende die Kinder mit den vorgeblich besonderen Bedürfnissen – und dass die 85 Prozent dazwischen so chronisch normal sind, dass sie keine Bedürfnisse haben.“

Was es braucht, damit Inklusion – im Prinzip ein Weiterdenken der vielbeschworenen Individualisierung – funktioniert? „Erst einmal ein Loslassen der Ängste, die mit dem Thema Behinderung verbunden sind“, sagt Schulze. Und natürlich: die entsprechende Ausbildung der Lehrkräfte, weniger Schüler pro Klasse, mehr spezialisiertes Personal, das mobil und flexibel abrufbar ist. Zudem bauliche Adaptierungen, damit die Kinder auch Rückzugsmöglichkeiten hätten. Profitieren würden letztlich alle – auch im Sinn von sozialer Kompetenz.

Mehr kosten müsse das nicht unbedingt, so Schulze: „Derzeit finanzieren wir ja in der Sonderpädagogik eine Parallelstruktur, etwa in den Landesschulräten, bei den Gebäuden.“ Studien würden außerdem zeigen, „dass gewisse Therapiebedürfnisse dramatisch sinken“, wenn Kinder mit Behinderungen inklusiv beschult würden.

Die Eltern überzeugen

Schulze plädiert auch für ein neues Vorgehen bei der Schulwahl. Derzeit werde „in Richtung Sonderschule beraten“, wenn sonderpädagogische Zentren – die meist auf Bezirksebene angesiedelt sind und beispielsweise Beratung und Fortbildung übernehmen – vom Bestehen der Sonderschulen abhängig seien. Schulze fordert daher „neutralere“ Beratung durch multidisziplinäre Teams, die einen Gesamteindruck vom Kind und von den Möglichkeiten haben „und die die Eltern davon überzeugen können, was für das Kind die beste Wahl ist. Eltern haben bisweilen Schwierigkeiten, sich Inklusion vorzustellen.“ Vor allem dann, wenn das Regelschulwesen ablehnend reagiere, entstehe bei vielen der Eindruck, dass das Kind nur in einer Sondereinrichtung die Förderung bekomme, die es braucht.

Sonderschulen solle es aber in Zukunft ohnehin keine mehr geben: Laut Schulze würde eine Umsetzung der UN-Konvention deren völlige Abschaffung bedeuten. Das Bildungsministerium prüft derzeit die Möglichkeiten.

Die Idee

Marianne Schulze (39) leitet den unabhängigen Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Inklusive Bildung ist laut der Konvention Pflicht – laut Schulze bedeutet das ein Aus für Sonderschulen. Aus dem Bildungsministerium heißt es dazu: Man prüfe derzeit die Möglichkeiten.
Die Idee. Schulze plädiert für neue Wege bei der Schulwahl: Multidisziplinäre Teams sollten Eltern beraten. Die Menschenrechtsexpertin fordert auch Bewusstseinsbildung: „Es braucht ein Loslassen der Ängste, die mit dem Thema Behinderung verbunden sind.“ [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2014)

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