Migration und Schule: Von verschenkten Noten und Versagen

(c) Clemens Fabry
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Heidi Schrodt hat ein Buch vorgelegt, das es eigentlich gar nicht geben sollte. Das viele Baustellen anführt. Aber immerhin auch zeigt, was gelingen kann.

Fast eindringlicher als Zahlen über fehlende Chancen und benachteiligte Kinder zeigt das Fünferverbot die Kapitulation des Schulsystems. Marissa N., Lehrerin an einer Neuen Mittelschule in Wien: „Meine Direktorin ist zu mir gekommen und hat gesagt: ,Es fällt keiner durch.‘“ Thomas O.: „Ich gebe kein Nicht genügend mehr. An meiner Schule macht das fast niemand mehr.“ Alexandra P.: „Es wird argumentiert: Das ist im Sinne der Kinder.“

Einzelfälle? Mitnichten, wie die Bildungsexpertin Heidi Schrodt in ihrem Buch „Sehr gut oder Nicht genügend – Migration und Schule in Österreich“ schreibt. „Eine Hilflosigkeit gegenüber dem versagenden System kommt hier ebenso zum Ausdruck wie Resignation [. . .]. Man glaubt, im Interesse der Kinder zu handeln, trägt aber dazu bei, das System in der derzeitigen Form am Leben zu erhalten.“

Ein System, das eines bekanntlich besonders schlecht kann: allen gleiche Voraussetzungen zu bieten, egal, woher sie kommen, ob die Eltern arm oder reich, gebildet oder ungebildet sind. In dem die Hauptschulen und Neuen Mittelschulen in den Städten zu „Restschulen“ verkommen. Und das mitunter so überfordert ist, dass Jugendliche ein positives Zeugnis bekommen – ohne ordentlich lesen, schreiben, rechnen zu können.

Heidi Schrodt, ehemalige AHS-Direktorin und umtriebige Bildungsexpertin, hat sich in ihrem Buch auf Spurensuche gemacht. Sie rezipiert Studien und Statistiken von PISA abwärts, sie spricht mit Forschern, Pädagogen und Schülern, besucht Kindergärten und Schulen. Um vor allem eines herauszufinden: Warum die Schule es derart schlecht schafft, mit Kindern mit Migrationshintergrund umzugehen.

Der Fokus auf die Migranten hebt das Buch einerseits ab von der Menge an kritischen Büchern, die zuletzt zum Thema Schule erschienen sind – von Andreas Salcher bis Bernd Schilcher. Doch er bringt auch eine gewisse Unschärfe mit sich: Immerhin treffen viele der geschilderten Problematiken nicht nur auf Migrantenkinder zu – oder besser gesagt: nur dann, wenn diese aus sozial schwachen oder bildungsfernen Familien kommen. Schrodt thematisiert das selbst wiederholt. „Wer behauptet, der Migrationshintergrund per se führe zu Benachteiligung, irrt nachweislich. Wer aber meint, Kinder mit anderen Erstsprachen als Deutsch hätten in unseren Schulen keine Probleme, irrt ebenfalls.“

„Lost in Transition“

Der Befund, den Schrodt dem System ausstellt, ist jedenfalls so treffend wie trist: Dass die Politik bestenfalls halbherzig auf Herausforderungen reagiert hat, die längst nicht mehr neu sind. („Angesichts der enormen demografischen Umwälzungen der letzten Jahre sollte man meinen, dass sich in der Folge des Schulsystem entsprechend gewandelt hat. Davon kann keine Rede sein.“). Und so führt sie über mehrere Kapitel Baustellen auf – vom Kindergarten über Hauptschulen in der Stadt, Schnittstellen („Lost in Transition“), (fehlende) Notenwahrheit bis hin zu Mängeln bei der Sprachförderung.
Sie zeigt aber auch, was gelingen kann: anhand eines Kindergartens in Ottakring, der erfolgreich mit Vielfalt umgeht. Einer Neuen Mittelschule in Währing, in der die Lehrer trotz schwierigster Bedingungen motiviert sind. Oder eines Gymnasiums, das zwar nicht mit einem Vorzeigeprogramm aufwartet, aber mit vielen Schülern mit Migrationshintergrund schlicht gut arbeitet. Ein Blick in den Norden, nach Schweden, rundet das Buch ab.

Für die österreichische Schule hinterlässt Schrodt einen Katalog an Forderungen: von einem zweiten Kindergartenjahr und mehr Sprachförderkräften über die Auflösung der Trennung mit zehn Jahren bis hin zu mehr Geld für Schulen in schwierigen Lagen und Türkisch als Maturafach. Reformvorschläge, die ein solches Buch zumindest in Zukunft obsolet machen könnten. Denn eigentlich, so Schrodt, sollte es dieses Buch gar nicht geben. Eigentlich sollten alle Kinder gleiche Chancen haben.

Auf einen Blick

Heidi Schrodt (* 1950)ist pensionierte AHS-Direktorin und Vorsitzende der Initiative BildungGrenzenlos. Ihr Buch „Sehr gut oder Nicht genügend – Schule und Migration in Österreich“ erscheint am 1. September 2014 im Styria Verlag. Vorbestellungen auf styriabooks.com.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2014)

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