USA: Chancen für Kinder aus dem Ghetto

DETROIT
DETROIT(c) EPA (JEFF KOWALSKY)
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Vaughn Arrington war selbst zehn Jahre lang im Gefängnis. Heute will er Jugendlichen eine Perspektive geben. Und gemeinsam mit ihnen das Schulsystem von Detroit umkrempeln.

Vaughn Arrington ist eigentlich ein ziemlich fröhlicher Mann. Doch einmal treten ihm die Tränen in die Augen. Als er erzählt, wie er mit der kleinen Diamond – einem Mädchen afroamerikanischer Herkunft wie er selbst – durch jene Viertel seiner Heimatstadt Detroit fuhr, in deren Straßen man keine Angst haben muss. „Das ist nichts für uns“, habe das Mädchen zu ihm gesagt. „Das ist doch nur etwas für die Weißen.“

„So denken viele Jugendliche“, sagt Arrington, der in der vergangenen Woche bei der Kinderuni-Konferenz in Wien war (siehe Factbox). Es ist nicht einmal vorstellbar für sie, in einer Gegend zu leben, in der Gewalt nicht auf der Tagesordnung steht, eine ordentliche Schulausbildung zu bekommen, die Aussicht auf einen vernünftigen Job zu haben. „Und eigentlich heißt das: Ich bin auf dem Weg ins Gefängnis.“

Vaughn Arrington will, dass Diamond und viele andere Jugendliche wagen, sich ein anderes, ein gutes Leben vorzustellen. Umso mehr, weil der 32-Jährige ganz genau weiß, wovon er spricht: Er war nach einem bewaffneten Raubüberfall zehn Jahre lang im Gefängnis. Aufgewachsen ist er in einem Viertel im Westen von Detroit, er nennt es Ghetto. Die Eltern verkaufen Drogen, die Mutter schlägt die Kinder. „Bei ihr war immer erst Schluss, wenn sie Blut gesehen hat.“ Ersatzfamilie ist die Gang: ein Haufen junger Leute, die ihn mit der Kriminalität in Kontakt bringen.

Überfall mit Schrotflinte

Zwei Tage nach seinem 16. Geburtstag kommt der Moment, der sein Leben nachhaltig verändern wird. Zunächst zum Schlechteren. „Strom und Wasser im Haus drohten abgedreht zu werden. Und ich dachte, es wäre eine gute Idee, das Geld selbst aufzutreiben.“ Mit einer kaputten Schrotflinte halten er und sein Bruder einen Autofahrer auf. „Ich hatte mein Leben lang ziemlich gute Führungsqualitäten“, sagt Arrington. „Ich habe sie nur nicht für allzu sinnvolle Sachen genutzt.“

Während seine Stimme rasch rau wird, wenn er von Kindern ohne Perspektive spricht, erzählt Arrington seine eigene Geschichte ziemlich routiniert. Er erzählt sie, weil sie nicht nur sein Leben betrifft, sondern sinnbildlich ist für das, was er bekämpfen will. Detroit, mit mehr als 80 Prozent afroamerikanischen Bürgern eine der größten schwarzen Gemeinden in den USA, leidet unter Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität wie kaum eine andere Stadt in den Staaten. Mord war 2010 die häufigste Todesursache unter Jugendlichen. Die Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg sind in der Stadt, die erst vor gut einem Jahr in die Pleite geschlittert ist, rar.

Alternativen zu Rausschmiss

Sofort nach dem Überfall wird Arrington von der Polizei erwischt. Und was nicht oft passiert, gelingt bei ihm: Er orientiert sich im Gefängnis um. „Die wichtigsten Einflüsse für meine Veränderung kamen von zwei Typen, die ich nie getroffen habe: Martin Luther King und Jesus. Und ich dachte mir: Es wäre großartig, wenn ich der Welt auch irgendetwas hinterlassen könnte“ Klingt fast kitschig, Fakt ist: Vaughn Arrington macht seinen Highschool-Abschluss, er bewirbt sich vom Gefängnis aus für die Uni, studiert Sozialarbeit. Und rutscht nicht mehr in die Kriminalität – angesichts der Rückfallquote von mehr als 50 Prozent innerhalb der ersten drei Monate in Freiheit seine größte Angst.

Seitdem will er etwas dafür tun, damit andere nicht in diese Lage kommen. Mit seiner Organisation „Team Strength Detroit“ – die er neben seinem Job für die Stadtregierung betreibt – feilt er beispielsweise an Alternativen für den temporären Rausschmiss von Jugendlichen aus der Schule. Gerade in sozial schwächeren Gegenden, in denen es auch in den Schulen mitunter rau zugeht, eine verbreitete Disziplinarmaßnahme. Die nach Arringtons Meinung völlig nach hinten losgeht. Statt die Schüler bei Problemen einfach nach Hause zu schicken – vielfach heißt das: auf die Straße –, sollen sie Gelegenheit haben, darüber zu sprechen, zu reflektieren, was schiefgegangen ist.

„Unsere Vision ist es, den momentan geläufigen Prozess – dass Schüler festgehalten und dann suspendiert werden – zu verändern: In ein Modell, bei dem es darum geht, zu lernen und zu wachsen.“ Oder, einfach gesagt: „Wir hoffen, dass wir ihre Denkweise da und dort ändern können.“ Denn die Vorstellungen seien negativ geprägt, sagt Arrington. Von der Gesellschaft, von den Eltern. „Für viele Menschen aus meiner Stadt ist es nicht überraschend, wenn Jugendliche im Gefängnis landen. Es ist überraschend, wenn sie es nicht tun. Es ist überraschend, wenn aus ihnen gute, gesunde Menschen werden. Und ich will diese Chancen neu definieren.“

Was die Schüler selbst wollen

Eines seiner Projekte ist ein internationales, das bei der Konferenz in Wien vorgestellt wurde. Es heißt „What we recommend“. Jugendliche selbst machen sich dabei Gedanken, was in ihren Schulen besser laufen muss. Rund um die Welt sind dafür Videos gedreht worden. Und die Forderungen der Schüler aus Detroit sind vielfältig.

Lehrer sollten nach dem Unterricht noch ein, zwei Stunden bleiben, um bei Fragen zu helfen. Sie sollten die Schüler dazu motivieren, das Beste aus sich herauszuholen. Sie aus Detroit hinausbringen, ihnen die Welt zeigen. Und immer wieder das Umfeld: Es sei manchmal sehr schwierig zu lernen, wegen der Kriminalität und so, sagt eine Schülerin in dem Video. Wäre die Gegend sicherer, wäre es leichter, sagt ein Schüler.

In einer zweiten Runde diskutieren sie mit Entscheidungsträgern darüber: beispielsweise mit Mike Duggan, Bürgermeister von Detroit, oder mit einer Beraterin des US-Präsidenten. Ende des Jahres soll eine Petition fertig sein. Die im Frühjahr von zwei Dritteln aller Schüler in Detroit unterschrieben werden soll. Wenn es nach Vaughn Arrington geht. Er ist jedenfalls positiv gestimmt: „Damit werden wir das öffentliche Schulsystem in Detroit ändern“, meint er. „Diese Jugendlichen sind wütend. Und sie verlangen Veränderungen.“

AUF EINEN BLICK

Konferenz. Das europäische Kinderuni-Netzwerk EUCU.NET lud vergangene Woche in Wien zur Tagung „Visionary or Fantasy“. Dort wurde das internationale Projekt „What we recommend“ vorgestellt. Dabei wird auf Video festgehalten, was Jugendliche sich für den Bildungsbereich wünschen. Einige finden sich bereits auf Youtube: youtube.com/user/siscatalyst1. In Detroit soll das Projekt in eine Petition münden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2014)

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