Sonnwendviertel: Eine Schule, die zum Ausprobieren zwingt

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der neue Bildungscampus Sonnwendviertel hat mit einer herkömmlichen Schule wenig gemein: Es gibt Marktplätze, Nester, sechseckige Tische und viel Glas.

Es riecht weder nach Linoleum noch nach Kreide und außergewöhnlich ruhig ist es auch: Der neue Bildungscampus im Sonnwendviertel unweit des Wiener Hauptbahnhofs ist seit dreieinhalb Wochen in Betrieb – und gerade dabei, sich zu füllen. Knapp 500 Kinder zwischen null und 14 Jahren besuchen derzeit Kindergarten, Volksschule oder Neue Mittelschule. Voll besetzt sollen es in drei Jahren rund 1100 Kinder sein. Ungewöhnlicher als die Tatsache, dass die Schule sozusagen erst wachsen muss, sind aber die Räumlichkeiten selbst. Denn architektonisch hat der Campus wenig mit einer herkömmlichen Schule gemein.

Neun Mal sieben Meter große Klassenzimmer, nackte Gänge, hie und da unterbrochen von Pausenräumen, sucht man hier vergeblich. Ganz genauso wie das klassische Konferenzzimmer und die genormten Schulbänke. Stattdessen gibt es Marktplätze und Cluster, Teamräume und Nester. Dazwischen: durchgängige Glaswände. In den Klassen: eigens designte Schultische in Form unregelmäßiger Sechsecke – für drei statt für zwei Schüler gedacht.

Der dritte Pädagoge

Dabei sieht das neue Schulgebäude von außen recht unspektakulär aus: schlammfarbene Fronten, schachtelartige Gebäudeteile, metallene Stiegen. Nicht gerade so, als würde sich hier die architektonische Revolution abspielen. Dabei hat wirklich eine gewisse Revolution stattgefunden. Gewünscht war von der Stadt Wien nicht eine Schule nach Norm, sondern eine, in der es beispielsweise möglich sein sollte, einen größeren Anteil des Unterrichts in Freiarbeit zu bestreiten. Also pädagogische Konzepte in Architektur gegossen. Der Raum als dritter Pädagoge – neben dem Lehrer und den Mitschülern. Das Wiener Architekturbüro PPAG hat das in einer Art Dorfstruktur umgesetzt.

So tummeln sich gerade die Volksschüler – statt in der Klasse zu sitzen – mit ihren Arbeitsblättern auf einem sogenannten Marktplatz. Die Marktplätze sind das Herzstück des Konzepts: Um diese Freiflächen, die für das Arbeiten genauso genutzt werden können wie für die Pause und in denen in der Volksschule sogar zu Mittag gegessen wird, sind je vier Klassenräume angeordnet. Jeder davon hat wiederum ein sogenanntes Nest: eine Art erhöhte Nische mit Pölstern und Sitzsäcken, die die Schüler zum Lesen, Lernen, Ausruhen verwenden können. Und auch ein Stück Garten oder Terrasse, das direkt zugänglich ist. Demnächst sollen dort Lauben aufgestellt werden und farbige Sitzmöbel aus Kunststoff, ähnlich den sogenannten Enzis, mit denen das Büro PPAG schon das Wiener Museumsquartier prägte. Wozu auch immer diese dann genutzt werden.

Das ist ein Anspruch, dem die Lehrerinnen und Lehrer erst einmal gerecht werden müssen. „Es ist ein Ausprobieren“, sagt NMS-Lehrerin Melitta Miletich im sogenannten Teamraum – einer Art Mini-Lehrerzimmer, wie es an jedem Marktplatz ebenfalls zu finden ist. „Anfangs war ich ehrlich gesagt ein bisschen überfordert. Was tun wir mit dem Marktplatz? Wofür nutzen wir das Nest? Und das geht noch weiter: Ich bin neugierig, wie es laufen wird, wenn demnächst auch die Freiflächen zugänglich sind.“ Man müsse sich den Raum langsam erarbeiten. Das gelte für Lehrer wie Schüler.

Zu wievielt sitzt man bequem an den eigentlich für drei ausgerichteten Tischen? Was passiert im Nest? Wohin mit den Schultaschen? Mit den Materialien? Wo steht, wo sitzt die Lehrerin, wenn es keinen großen Lehrertisch mehr gibt? Wie sind Elemente von Frontalunterricht möglich – wenn die Tische so gestaltet sind, dass irgendwer immer den Kopf verdrehen muss, wenn auf dem digitalen Whiteboard etwas erklärt wird? „Wir Lehrer haben immer danach gerufen, dass Schulen heute anders aussehen müssen“, sagt Miletich. „Und jetzt stellt sich die Frage: Was kann man daraus machen? Macht das etwas mit mir? Mit den Schülern? Man spürt einiges – aber es ist noch zu früh, um zu sagen, was genau.“

Die Farbe kommt noch

Überhaupt gibt es noch so einiges, was passieren wird. Auch farblich soll sich noch etwas tun. Und das Konzept, das innen ähnlich zurückhaltend ist wie außen – schlammfarben, sandfarben, grau – ein bisschen aufgebrochen werden. „Willkommen“, steht schon in bunter Kreide auf einer mit Tafellack überzogenen Wand – einer jener Flächen, auf der sich die Schüler kreativ austoben können.

Ob sie auch die farbigen Ornamente ergänzen dürfen, die auf den Wänden aus Sichtbeton anzeigen, in welchem Bauteil man sich befindet, muss dagegen erst geklärt werden. NMS-Schulleiter Andreas Gruber würde es jedenfalls gefallen. Denn immerhin wäre das auch eine Form, sich den Raum anzueignen.

AUF EINEN BLICK

Mehr Bilder: diepresse.com/campusSonnwendviertel. Der 20.000 Quadratmeter große Campus in Wien Favoriten ist der erste für Null- bis 14-Jährige. In drei Jahren soll er elf Kindergartengruppen, 17 Klassen der Ganztagsvolksschule und 16 Klassen der ganztägigen NMS umfassen. Dafür veranschlagte Errichtungskosten: 79 Millionen Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2014)

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