Sozialromantik: "Der klassische Vorwurf gegen die Gesamtschule"

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Die Autorin des Buches "Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule" sagt, dass der Zug für eine gemeinsame Schule abgefahren ist. Aber nicht endgültig.

Die Presse: Der Titel ihres Buches ist "Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule. Woher kommt denn diese Angst?

Gertrud Nagy: Diese Angst rührt aus Standesdünkeln, könnte man polemisch sagen. Der Wert der Bildung wird in der Mittelschicht sehr hoch angesetzt, Eltern befürchten den Verlust des eigenen sozialen Status, wenn ihr Kind nicht die Unterstufe eines Gymnasiums besuchen kann. Sie sehen Bildung als ein Kapital, das sie unbedingt an ihre Kinder weiter geben müssen.

Die Frage ist ja: Profitieren von einer Gesamtschule nur die schwachen Schüler?

Nagy: Das ist eine sehr nachvollziehbare Frage für mich. Erfolgreiche Gesamtschulsysteme haben eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen geändert und hier profitieren auch die guten Schüler. Von Finnland etwa weiß man, dass es einen großen Anteil an Spitzenschülern gibt.

Lehrergewerkschafter Paul Kimberger sagte in der „Presse“, es sei Sozialromantik, dass die guten von den schlechten Schülern profitieren.

Nagy: Das ist der klassische Vorwurf gegen die Gesamtschule: Sie sei Sozialromantik. Wenn aber wirklich individualisiert wird, dann kann man alle erreichen. Wenn ein leistungsfähiges Kind einem anderen etwas erklären muss, dann profitiert es noch einmal. Denn im Erklärungsprozess wird das Verständnis trainiert. Hier ist außerdem Lehrerkompetenz gefragt: Für die stärkeren Schüler muss ich Zusatzstoff anbieten.

Der Nutzen betrifft das soziale Lernen. Aber intellektuell lernt der gute Schüler wohl im Gymnasium mehr.

Nagy: Der Knackpunkt sind soziale Gerechtigkeit und Bildungschancen für alle. Man muss sich fragen: Wie fair ist das Schulsystem gegenüber den Schülern, die nicht den Vorteil haben, in eine stabile Lerngruppe hinein zu kommen?

Also ist das Argument der sozialen Gerechtigkeit für Sie das Hauptargument?

Nagy: Nicht nur, es geht um weitaus mehr. Wenn unser System ein Fünftel an Versagern im Lesen produziert, dann kann das für unsere Wirtschaft nicht gut sein. Es ist kein Zufall, dass Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer eine gemeinsame Schule sinnvoll finden. Und: Wenn viele Jugendliche keine beruflichen Perspektiven haben und sich ausgegrenzt fühlen, kann es auch in unseren Ballungsräumen zu sozialen Unruhen kommen.

Wie sehen Sie den Einfluss der NMS? Hat sie eine mögliche Gesamtschule geschwächt?

Nagy: Der Zug für die Gesamtschule ist schon vorher abgefahren. In den 70er Jahren herrschte eine Aufbruchsstimmung, aber bei allen späteren Anläufe war schon klar, dass es keine soziale Durchmischung gibt. Ob das nun Schulversuche waren oder die Neuen Mittelschule. Wenn ich diese Durchmischung nicht erreiche, kann ich aber keine Unterrichtskonzepte umsetzen, von denen tatsächlich alle profitieren. Das Zeitfenster für eine Gesamtschule ist für längere Zeit geschlossen. Die Risikogruppe hat aber ein Anrecht darauf, dass man sie nicht fallen lässt. Man muss es zumindest schaffen, dass kein Kind in Österreich die Pflichtschule ohne ein Minimum an Perspektiven und Lebenschancen verlässt. Wenn wir das nicht garantieren können, haben wir versagt.

Wie stehen Sie zur NMS?

Nagy: Ich befürworte die Neue Mittelschule. Aber sie ist Schadensbegrenzung. Wo die Fehler liegen, sieht man in der Evaluierung.

Der Zug für die Gesamtschule ist nun also endgültig abgefahren?

Nagy: Nein, nur ein gewisses Zeitfenster. Als die Diskussion um die NMS begonnen hat, war das Fenster noch offen. Als klar war, dass die AHS bestehen bleiben, war klar, es ändert sich strukturell nichts.

Ließe sich das Fenster wieder öffnen?

Nagy: Mein Wunschtraum wäre: Die NMS schafft es tatsächlich, eine neue Lernkultur umzusetzen und erfolgreich zu sein. Also weniger Schulabbrecher zu produzieren, weniger Schulschwänzer, weniger Risikoschüler. Wenn das Konzept aufgeht und die Schule auf der unteren Ebene erfolgreich wäre, könnte das ein Argument dafür sein, dass man mit Heterogenität auch in einem größeren Maße umgehen kann. Also ein Argument für eine innovative Gesamtschule.

Wie lange würde das dauern, bis die NMS solche Ergebnisse bringen kann?

Nagy: Mindestens weitere acht Jahre.

Zur Person

Die Oberösterreicherin Gertrud Nagy, geboren 1948, ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Sie arbeitete 25 Jahre als Hauptschullehrerin und -direktorin in einer Kleinstadt. Im März erschien ihr Buch "Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule. Warum die Gesamtschule notwendig wäre, im städtischen Raum schwer umsetzbar ist und was zur Schadensbegrenzung getan werden sollte".

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