Unterricht im Spital: Ein Medikament namens Schule

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Suizidgefährdete, Essgestörte und Krebskranke: Das sind die Schüler, die Irene Wagner im Krankenhaus unterrichtet. Schule als "ein Stück Normalität im Krankheitswahnsinn".

Linz. Bettina (Name der Patienten von der Redaktion geändert; Anm.) ist konzentriert. Vor ihr liegt ein Din-A4-Blatt mit Fragen zu Wirtschaftskrise, Klimawandel und Globalisierung. Ein Geografietest. Nicht der erste, aber hoffentlich der letzte Test, den die Gymnasiastin hier auf der Psychiatrie schreibt.

Bettina ist psychisch krank. Sie wurde kurz nach Weihnachten in die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Landes-, Frauen- und Kinderklinik in Linz eingeliefert. Seither ist die 18-Jährige aber nicht nur Patientin, sondern auch Schülerin. Jeden Dienstag und Mittwoch sieht Bettina nicht nur Ärzte, Psychologen und Psychiater, sondern auch einen Lehrer. Er lernt an diesen Tagen mit ihr Mathematik. Sie soll so kurz vor der Matura ja nicht durch ihren wochenlangen Spitalsaufenthalt den Anschluss in der Schule verlieren. Klingt logisch. Organisatorisch war das aber noch bis vor Kurzem unmöglich.

Lang krank, Klasse wiederholt

Kinder und Jugendliche, die mehrere Wochen oder Monate im Spital verbringen mussten, wurden bisher nämlich nur dann unterrichtet, wenn sie noch schulpflichtig waren. Den Unterricht übernahmen in diesen Fällen die in den Krankenhäusern angesiedelten Heilstättenschulen. 15- bis 19-Jährige wurden dagegen sich selbst überlassen. Mit der Konsequenz, dass vielen Langzeitpatienten der Wiedereinstieg in die Schule schwerfiel, manche sitzen blieben und im Extremfall die Schule abbrachen. Die Höhere Schule im Spital (HIS), die im Herbst in Oberösterreich eröffnet wurde, soll da helfen (siehe Faktenbox).

Seither besteht Irene Wagners Berufsalltag neben dem Unterrichten aus persönlichen Gesprächen, Telefonaten und E-Mails. Die Direktorin der HIS ist vor allem Koordinatorin. Sie vernetzt Oberösterreichs Spitäler und deren Patienten mit Schulen und Lehrern. Heute legt die Direktorin Bettina den Test vor und schickt ihn zurück an den Geografielehrer. Dann trifft Wagner zwei neue Schüler. Beide Patienten sind wie Bettina auf der Psychiatrie. Das ist kein Zufall, sondern die Regel. Die Mehrheit der 50 seit Herbst unterrichteten Schüler sind Patienten dieser Abteilung. Es sind Jugendliche, die einen (manchmal mehrere) Suizidversuch(e) hinter sich haben, Schüler, die magersüchtig sind oder depressiv. Für sie sind Krankenhausaufenthalte von zehn Wochen nichts Ungewöhnliches. In Extremfällen werden sie bis zu einem Jahr stationär behandelt.

Die Höhere Schule im Spital hat den Alltag dieser Patienten verändert. Auf den Tagesplänen stehen neben Ergo- und Hundetherapie, Koch- und Haushaltstraining auch Mathematik, Englisch, Latein. Unterricht gibt es nur dann, wenn Ärzte und Psychologen grünes Licht geben. „Wir Lehrer bringen für die Jugendlichen ein Stück Normalität auf die Psychiatrie. Wir gehören draußen zu ihrem Alltag. Es tut gut, wenn wir auch drinnen Teil sind. Und vielleicht hilft das gegen die Stigmatisierung“, sagt Wagner. Den Wert der Lehrerarbeit schätzen Ärzte und Psychologen noch höher: „Für die Jugendlichen kann ein besonderes Medikament ,Schule‘ heißen“, so Konrad Bernard von der Frauen- und Kinderklinik.

Suche nach Lehrern schwierig

Bei Peter, der seit November in der Linzer Nervenklinik Wagner-Jauregg stationiert ist, dürfte das Medikament gewirkt haben. Er hat fast ein Semester der zweiten HAK-Klasse im Spital absolviert. In Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Deutsch, Englisch, Mathematik wurde er von den HIS-Lehrern unterstützt, schrieb seit November vier Schularbeiten im Spital und steht vor der Entlassung. „Super“ sei der Unterricht gewesen, habe Abwechslung gebracht. Schade sei nur, dass sich kein Russischlehrer finden ließ. Da müsse er den Semesterstoff irgendwie nachholen.

Die Suche nach Pädagogen ist auch für Wagner nicht immer einfach. Zuerst versucht sie, die Lehrer der betroffenen Schüler für den Unterricht im Spital zu gewinnen. Das funktioniert nicht immer. Dann werden die HIS-Lehrer eingesetzt. Oberösterreichweit haben sich 60 gemeldet – nicht genug. Die Lehrer bekommen den Unterricht im Spital als Überstunden abgegolten. Extra-Ausbildung brauchen sie dafür keine. Über die Jugendlichen auf der Psychiatrie erfahren die Pädagogen nur das, was sie für den Unterricht wissen müssen. Genaue Diagnosen kennen sie nicht. Sie sind und bleiben Lehrer.

Lehrer, die für den Unterricht im Krankenhaus bezahlt werden. Höhere Schule im Spital eben. Das bedeutet auch, dass kein Unterricht bei Patienten zu Hause stattfinden darf. So will es die Vorschrift. Für Wagner hieß das, dass sie einem krebskranken Jungen erklären musste, dass er während der Chemotherapie im Spital unterrichtet werden kann, aber nicht, wenn er sich zu Hause erholt. Die Enttäuschung war groß, erzählt Wagner: „Er will einfach das Jahr schaffen. Schule als ein Stück Normalität im Krankheitswahnsinn“.

AUF EINEN BLICK

Die Höhere Schule im Spital (HIS) ist eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht des Schulvereins der Kreuzschwestern.

Die Idee: Patienten, die das schulpflichtige Alter schon überschritten haben, sollen während eines längeren Spitalsaufenthalt im Krankenhaus unterrichtet werden. Die Schule eröffnete im Herbst in Oberösterreich. In machen Bundesländern gibt es eine derartige Schule schon seit Längerem, in anderen hat man das Problem noch nicht gelöst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2015)

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