Schulbeginn 1992: Nachmittags kommen die Flüchtlinge

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Schulbeginn 2015 ist angesichts des Flüchtlingsandrangs eine Herausforderung. Jener im Jahre 1992 war es auch. Von Nachmittagsklassen und knietiefen Papierstapeln.

Wien. Blut, Waffen und Jagdflieger kritzeln die Schüler, die im Nachmittagsunterricht sitzen, auf das Papier. Bunte Blumenwiesen und saftige Wälder zeichnen die Kinder, die den Unterricht am Vormittag besuchen. So erzählt es der Wiener Stadtschulratspräsident. Die Schüler, die am Nachmittag in der Klasse sitzen, kommen aus Ex-Jugoslawien. Die anderen aus Wien.

Wir schreiben September 1992. In Österreichs Schulen wurden gerade tausende Flüchtlinge aus dem einstigen Jugoslawien aufgenommen. Heute, 23 Jahre später, sind die Schulen in einer ähnlichen Situation. In der Schulverwaltung ist man optimistisch. Man konnte mit dem Flüchtlingsandrang in den 1990er-Jahren umgehen, man wird es auch heute schaffen. Nur, wie funktionierte die Einschulung damals?

In Wiens Schulen rechnet man heute mit 350 Flüchtlingskindern – Anfang der Neunzigerjahre kamen bei einer Gesamtschülerzahl von rund 220.000 an die 3000. Damals entschied man, diese nicht in den regulären Unterricht zu integrieren. Wegen der beengten Platzverhältnisse – man hätte neue Klassen eröffnen müssen – wäre das gar nicht möglich gewesen, sagte der damalige Stadtschulratspräsident Kurt Scholz (SPÖ). Und so begann der Unterricht für die Flüchtlinge erst zwischen 13 und 14 Uhr und endete um 17.20 Uhr. Es gab bis zu 100 solcher Nachmittagsklassen – meist in Bezirken mit hohem Migrantenanteil.

Ein Buch pro Lehrer

Die heimischen Lehrer wurden gebeten, zusätzlich am Nachmittag zu unterrichten. Dafür gab es Geld. Die Bereitschaft war groß. Es wurden aber auch zusätzlich 200 bis 300 Lehrer angestellt – viele davon aus Ex-Jugoslawien (mit Sonderverträgen). Österreichische und ex-jugoslawische Lehrer lehrten am Nachmittag gemeinsam – die einen Deutsch, die andere übernahmen den Fachunterricht. Gelernt wurde also auch in der Muttersprache.

Dafür brauchte es ebenso Schulbücher aus der Heimat. Die Pakete aus Ex-Jugoslawien kamen in viel zu kleiner Zahl in Österreich an. Pro Buchtitel gab es pro Lehrer nur ein Exemplar. So wurde kopiert und kopiert. Der pensionierte Bezirksschulinspektor Manfred Pinterits erinnert sich daran: „Ich bin knietief durch das Kopierpapier gewatet.“

Viel war improvisiert, erzählt auch Kurt Scholz. „Auf Basis des guten Willens hat das aber alles relativ problemlos funktioniert.“ Freilich hat es aber auch damals Kritik am Vorgehen der Schulbehörde gegeben – vor allem an den separaten Flüchtlingsklassen. Das sei eine gute Notmaßnahme gewesen, ist Scholz noch heute überzeugt. Es habe sich ja nicht um eine Abschottung der Flüchtlinge gehandelt. Sie seien den heimischen Schülern ja auch am Nachmittag in der Schule begegnet. Und: „Für die ideologische Frage, Ausländerklassen oder nicht, hatte ich null Verständnis. Man hat in einer solchen Situation einfach zu handeln. Denn alles ist besser für Flüchtlingskinder, als auf der Mariahilferstraße herumzulungern“, sagt der einstige Stadtschulratschef.

Sobald die Kinder gut Deutsch sprachen, durften sie in den Vormittagsunterricht. Da die Lehrer ohnehin dieselben waren, war das unbürokratisch. In jedem Jahr wechselten 30 Prozent der Flüchtlingskinder in die regulären Klassen. Nach zwei bis zweieinhalb Jahren war an allen Schulstandorten mit dem Nachmittagsunterricht Schluss.

Auch 1992 musste das übrigens rasch organisiert werden. In jenem Sommer gab es in der Schulverwaltung – anders als heute– strikte Urlaubssperre. Außerdem entschied man sich, die Flüchtlinge nicht in der ersten Schulwoche einzuschulen. Sie starteten eine Woche später. Das hatte nicht nur den Vorteil, dass mehr Vorbereitungszeit blieb, auch die Eltern der übrigen Kinder konnten bei Elternabenden informiert werden.

Schon damals ging jedes Bundesland aber seinen eigenen Weg. So verzichtete man in Vorarlberg auf eigene Flüchtlingsklassen. In Oberösterreich gab es pro Schüler 0,8 Werteinheiten mehr – also deutlich mehr Lehrer.

Manche Herausforderungen stellen sich in allen Bundesländern damals wie heute – der Umgang mit nicht mehr schulpflichtigen Flüchtlingen ist ein ebenso ungelöstes Problem wie die Finanzierung von Schulpsychologen.

Was Ersteres anbelangt gab es in Wien in den 1990er-Jahren eine provisorische Lösung: Die nicht mehr schulpflichtigen Flüchtlinge wurden von engagierten Lehrern in einem aufgelassenen Industriegebiet in Favoriten unterrichtet. Mit Letzterem ringen die Schulen noch heute. Psychologen fehlen noch immer. Und das, obwohl die Flüchtlingskinder auch 2015 verstörende Bilder zeichnen werden.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)

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