Digitalisierung in der Schule: "Wir verschlafen das"

Symbolbild.
Symbolbild.(c) REUTERS (MAXIM SHEMETOV)
  • Drucken

Das Bildungssystem komme mit der Heterogenität der Lerner nicht klar, sagt Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger. In den USA werden Curricula vom Computer für jeden maßgeschneidert.

Wien/Berlin. Ausgerechnet die vielen Flüchtlinge könnten dem heimischen Bildungssystem den notwendigen Schub in Richtung Digitalisierung geben. „Die Flüchtlingskrise bringt eine Welle an Herausforderungen, die wir mit den alten Lösungen nicht werden bewältigen können“, sagt Jörg Dräger, Vorstand der deutschen Bertelsmann-Stiftung. „Wir müssen hier innovative Wege mit digitaler Bildung gehen. Davon kann das ganze Bildungssystem profitieren.“ Deutsch lernen, Quereinstieg in die Schule, Nachholen von Qualifikationen: All das könnte digital extrem gut unterstützt werden.

„Wir verschlafen das derzeit etwas“, sagt Dräger, der am Donnerstag in Wien über sein Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ spricht. Das liege auch daran, dass in Österreich, Deutschland, Kontinentaleuropa generell der Druck nicht so hoch sei: In den USA sei (höhere) Bildung extrem teuer, in Schwellenländern sei Bildung oft nicht zugänglich. „Unser Problem ist, dass wir mit der Unterschiedlichkeit der Lerner nicht mehr klarkommen“, sagt der frühere parteilose Hamburger Wissenschaftssenator.

Curriculum vom Computer

Digitale Bildung verspricht, bisher unvereinbare Pole zu vereinen: Zugang für alle – und gleichzeitig ein individuell zugeschnittenes Lernmodell. Vor allem die Möglichkeit, effizient und kostengünstig auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können, sei die Zauberformel der Digitalisierung, meint Dräger. „So, wie man zum Preis des Anzugs von der Stange im Internet einen auf seine Körpermaße schneiden lassen kann, ist das auch in der Bildung: Dadurch, dass der Computer versteht, wo der Einzelne beim Lernen steht, in welcher Geschwindigkeit er lernt, was sein Lernstil ist.“

Wie das aussehen kann, zeigt die School of One in den USA, die Jörg Dräger in seinem Buch beschreibt. Über Nacht erstellt ein Zentralrechner für mehr als tausend Schüler ein individuelles Curriculum. „Das würde ein Lehrer mit acht oder zwölf Schülern auch hinkriegen, aber zu selten mit 25 sehr unterschiedlichen Schülern. „Insofern sind es keine Wunder, die noch nie ein Mensch vollbracht hat – es geht um die Dimension.“

In New York sitzen da etwa 90Schüler im Mathematikunterricht und lernen und üben den Stoff mit 10.000 digitalisierten Lerneinheiten. Die Lehrer sitzen vor Bildschirmen mit farbigen Tabellen mit allen Schülernamen. Ein Ampelsystem zeigt an, wenn ein Schüler mit seinem Lernprogramm nicht mehr weiterkommt – und wenn er Unterstützung braucht. „Die Lehrer können sich auf das konzentrieren, worin sie am besten sind: lehren“, zitiert Dräger in seinem Buch den Schulleiter in Brooklyn.

Einige kritische Punkte identifiziert er: „Der Begriff digitale Bildung führt etwas in die Irre – es geht mehr um Wissensvermittlung in standardisierten Kernfächern. Mathematik und Fremdsprachen kann man gut digital üben – aber das ersetzt nicht die Persönlichkeitsbildung der Kinder.“ Das Zweite ist die Frage, wie mit den Daten umgegangen wird: Einerseits sei es für digitale Bildung notwendig, möglichst viele Lerndaten zu erheben. Andererseits würden Datenspuren „wie Pattex“ untrennbar an jedem Lernweg kleben. „Solange es nicht klare harte Regeln zu Datenschutz und zu Datensouveränität gibt, kann damit ernsthafter Missbrauch betrieben werden.“

Und drittens sind da die Lehrer, die es zu schulen gelte – damit die Unsicherheit, die vielfach mit dem Einsatz von Technik verbunden ist, schwinde. Das sei im Übrigen auch der teuerste Punkt an der Digitalisierung: die Fortbildung der Lehrer. Die Anschaffung von Computern falle immer öfter weg, weil auf die eigenen Geräte der Schüler gesetzt wird. Auch der Ausbau von WLAN in allen Schulen mache keine gigantischen Beträge aus.

Kolonisierung durch USA?

Und was, wenn es weiter so langsam dahingeht? „Wir werden unsere Herausforderungen nicht so gut bewältigen können. Wir brauchen neue Wege. Wenn wir sie nicht gehen, werden wir es deutlich schwerer haben.“ Eine Frage sei auch, was Europa der US-amerikanischen Bildungsbewegung entgegensetzen könne. „Digitales Lernmaterial wird weltweit angeboten. Und ich möchte nicht, dass wir von Amerika kolonialisiert werden.“

AUF EINEN BLICK

Jörg Dräger (*1968) ist Vorstandsmitglied der deutschen Bertels- mann-Stiftung und dort für Bildung zuständig. Von 2001 bis 2008 war er in Hamburg parteiloser Wissenschaftssenator.

Das Buch „Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können“ (mit Ralph Müller-Eiselt) ist Ende September bei DVA erschienen (240 Seiten, 18,50 Euro).

Morgen, Donnerstag, sprechen Dräger und Wissenschaftsstaatssekretär Harald Mahrer (ÖVP) in Wien über digitales Lernen. Ab 18 Uhr im Impact Hub Vienna, Lindengasse 56. Anmeldung: protokoll-wissenschaft@bmwfw.gv.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.