Gesamtschulgegner gelten als „finstere Reaktionäre“

Andreas Salcher
Andreas Salcher(c) Juerg Christandl / KURIER / pict (Juerg Christandl)
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Interview. Autor Salcher würde AHS-Lehrer-Vertreter Quin gern nach Nordkorea schicken und plädiert für ein neues Lehrerdienstrecht.

Die Presse: Die Regierung hat ein Jahr lang verhandelt, um eine Punktation im Bildungsbereich zu beschließen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass es Mitte 2016 fertige Gesetze geben wird?

Andreas Salcher: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Regierung beginnt, Gesetze zu formulieren und versucht, die Grünen oder die FPÖ für eine Verfassungsmehrheit zu gewinnen. Oder – das ist die österreichische Variante – man beginnt wieder mit den Lehrergewerkschaftern, Eltern und sonstigen Gruppen zu verhandeln. Dann wird nicht viel von der Reform übrig bleiben.

Was würde das bedeuten?

Das wäre dramatisch. Kommt keine Reform, steht eine Amerikanisierung bevor. Dann werden alle, die es sich irgendwie leisten können, in die Privatschule gehen.

Ist das nicht ein städtisches Problem?

Das ist die große Illusion der westlichen Bundesländer. Aber der Westen ist um nichts besser, wie die Nachevaluierung der PISA-Ergebnisse gezeigt hat.

Ist es nicht der größte Fehler der Reform, dass die Rahmenbedingungen nicht verändert wurden?

Ja. Wir brauchen keine Systemkorrektur, sondern einen Systemwechsel. Das ist nicht gelungen. Wenn man weiß, dass die Reform vor allem von den derzeitigen Systemverwaltern ausgearbeitet wurde, dann verwundert das nicht. Was völlig gefehlt hat, ist die Einbeziehung von Bildungswissenschaftlern. Für die Poster der „Presse“: Damit meine ich nicht mich.

Glauben Sie wirklich, dass die Lehrer ignoriert werden können?

Die Regierung hat erkannt, dass Verhandlungen mit der AHS-Lehrergewerkschaft verschwendete Liebesmüh sind. Die AHS-Gewerkschaft – nicht die Lehrerschaft – ist im 21. Jahrhundert noch nicht angekommen. Wenn ihr oberster Vertreter (Eckehard Quin, Anm.) allein die Tatsache, dass Modellregionen gemacht werden, mit Nordkorea vergleicht, dann würde ich, wenn ich Teil der Regierung wäre, sagen: ,Passen Sie auf, wir finanzieren Ihnen ein Jahr in Nordkorea, und sie schauen sich dort das Schulsystem an. Wenn Sie zurückkommen, dann wird die Bildungsreform hier fertig sein.‘

Aber geht es ohne Lehrer?

Ihr Drohpotenzial ist ein überschätztes. Die Stärke hatten sie deshalb, weil sie die Parteien in Geiselhaft genommen haben. Nun haben sich SPÖ und ÖVP beziehungsweise Bund und Länder aber erstmals gemeinsam auf etwas im Bildungsbereich geeinigt.

Die Reform soll, abgesehen vom zweiten Pflichtkindergartenjahr, kostenneutral sein. Ist das möglich?

Das ist eine völlige Illusion. Das müssen alle wissen, die das sagen. Eines ist klar: Unser Schulsystem ist das zweitteuerste in der EU.

Die Ministerin sagt, dass ihr die Hände durch die Lehrergehälter gebunden sind.

Deshalb hätte man beim Lehrerdienstrecht ansetzen müssen. Es braucht eine Jahresarbeitszeit für Lehrer. Der Direktor muss mit seinen Lehrern entscheiden, wie viel unterrichtet, wie viel sozial gearbeitet wird et cetera. Dann würde es weniger Überstunden geben und andere finanzielle Spielräume.

Da würde es wohl Widerstand geben.

Ein neues Dienstrecht muss ja keine Verschlechterung sein. Ich kenne viele, die gern einen ordentlichen Arbeitsplatz in der Schule hätten und gern im Team arbeiten würden. Die Taktung – eine Stunde halten und jeweils eine Stunde vor- und nachbereiten – bevorzugt die weniger Engagierten.

Die Regierung wird bei der Gesamtschule wohl Zugeständnisse machen müssen, um die Stimmen der Grünen zu kriegen.

Das wird bestimmt neu verhandelt. Vermutlich werden die Modellregionen nicht auf 15 Prozent der Standorte und Schüler beschränkt bleiben. Und was ich nicht verstehe, ist, warum man das Ganze nach zehn Jahren evaluieren will.

Ist die Evaluierung der neuen Schulform nicht wichtig?

In Deutschland wurden die Unterschiede Gesamtschule versus differenzierte Schule oft evaluiert. Dass Bayern mit differenziertem System besser abschneidet als die anderen Länder hat vor allem mit der sozialen Zusammensetzung in den Regionen zu tun. Die Schulorganisation ist nicht entscheidend, der Lehrer ist der Schlüsselfaktor.

Was halten Sie davon, dass Eltern und Lehrer ihr Mitspracherecht bei der Einführung einer Modellregion verlieren sollen und allein das Land entscheidet?

Prinzipiell ist das richtig. Bestimmte Dinge kann man nicht demokratisch abstimmen, die muss man vorgeben. Wichtig ist, dass es Ausweichmöglichkeiten gibt. Eltern werden ihr Kind in den Zug oder die U-Bahn setzen und ins nächste Gymnasium schicken.

Warum sind es vorwiegend ÖVP-geführte Länder, die eine Gesamtschule wollen?

Es gibt einen 30-jährigen Krieg zwischen Gesamtschule und differenziertem System. Da bist du nur dann ein Reformer, wenn du für die Gesamtschule bist. Bist du das nicht, bist du ein finsterer Reaktionär. Die ÖVP-Länder wollen sich wohl reformerisch geben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)

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