Gesamtschule: Acht Jahre (fast) gemeinsam lernen

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Im Tiroler Ort Wattenberg besuchen acht Kinder die Volksschuloberstufe. Lehrer, Eltern und Schüler sehen Vorteile. Die Schulform ist dennoch ein Auslaufmodell.

Wattenberg. Das Auto schraubt sich Kurve um Kurve den Berg hinauf. Neun, zehn, geschafft. Hoch über dem Inntal, auf rund 1000 Metern Seehöhe, liegt eine österreichweite Schulbesonderheit. An der Volksschule Wattenberg gibt es eine Oberstufe. Das bedeutet, dass die Sechs- bis Vierzehnjährigen des Ortes an ein und derselben Schule nahezu ihre gesamte Pflichtschulzeit verbringen können. Ein altes Modell, das 2017 abgeschafft wird.

Einstweilen wird aber noch eifrig gelernt: „Mesopotamien“ steht vorn auf der Tafel. Linoleumboden, Lehrmaterial an den Wänden, über Hefte gebeugte Schülerköpfe. Auf den ersten Blick unterscheidet sich nicht viel von einer anderen Schule. Allerdings sind nur acht Kinder im Raum. Sie gehören zur altersgemischten Oberstufenklasse, die für die fünfte bis achte Schulstufe an der Volksschule Wattenberg angeboten wird. Roland Bachmann (zwölf) ist einer von vier Schülern, die bis zum Ende der Schule 2017 hier sein werden. Am anderen Tisch sitzen jene, die die Schule schon im Sommer verlassen. Darunter die 13-jährige Theresa Neyer, die die Überschaubarkeit der Schule besonders mag: „Hier kennt jeder jeden. Jeder hilft, wenn man etwas nicht weiß.“ Robert Baumann (13) grinst, wenn man ihn fragt, warum er hier zur Schule geht. „Weil sonst müsste ich viel früher aufstehen.“

Es ist erstaunlich leise, als Lehrer und Volksschuldirektor Antonius Geißler erzählt, was der Kodex des Hammurabi mit der heutigen Zeit zu tun hat. Geschichte steht auf dem Stundenplan der Oberstufe. 39 Kinder aus dem 700-Seelen-Dorf gehen in die dreiklassige Schule. Die Schüler der Oberstufe werden je nach Fach abwechselnd von einem der sechs Lehrer der Schule unterrichtet. Das ist nicht immer einfach: „Zwischen der fünften und der achten Schulstufe ist der Spagat manchmal zu groß“, sagt Geißler. „Gut ist: Die Kinder lernen voneinander. Und die, die schneller sind, hören oft schon bei den Älteren zu.“

„Dürfen wir Pause machen?“, fragt ein paar Minuten später einer der Buben. Eine Glocke gibt es hier nicht. „Wir fangen an, wenn wir anfangen, und machen Pause, wenn es passt“, sagt Geißler, während er am Tisch im Gang Platz nimmt. Hier, inmitten der Kinder, verbringen die Lehrer ihre Pause. Eine Volksschülerin marschiert ganz selbstverständlich in die Oberstufenklasse. Die Kinder sind den Umgang miteinander gewöhnt, sie kennen einander.

Vorletzte Schule in Österreich

Früher war in der Gegend die achtjährige Volksschule Normalität. In Vögelsberg und Volderberg wurde dieses Schulmodell bereits abgeschafft. Und auch die Wattenberger Oberstufe hat bessere Jahre gesehen. Noch vor sieben Jahren besuchten 30 Zehn- bis 14-Jährige die Schule in ihrem Heimatort. Seither nahm die Schülerzahl von Jahr zu Jahr ab. Geburtenärmere Jahrgänge sind ein Grund dafür. Und immer mehr Kinder besuchen ein Gymnasium oder fahren täglich eine halbe Stunde in die Neue Mittelschule im Tal. „Die Leute im Dorf haben einfach nicht mehr an die Schule geglaubt“, sagt Theresas Vater, Christian Neyer. Mit Wattenberg schließt 2017 die vorletzte dieser Schulen in Österreich. Danach wird es sie nur noch im Tiroler Lechleithen geben, auch dort wird sie aber umgestellt.

Der Grund: Mit der Einführung der Neuen Mittelschule gibt es keine rechtliche Grundlage mehr für den Schultyp. Und, heißt es seitens des Landesschulrats: „Die Kinder hätten dann einen riesigen Nachteil. Sie könnten nur nach grundlegender Allgemeinbildung (dem früheren Hauptschullehrplan, Anm.) beurteilt werden und hätten damit keine Berechtigung, eine weiterführende Schule zu besuchen.“

Eltern wie Lehrer in Wattenberg sind skeptisch, was die Zukunft angeht. „Hier sind Groß und Klein zusammen. Die Kinder erlernen vor allem soziale Kompetenz. Und mit der Schließung geht viel mehr verloren, als wir momentan realisieren“, sagt Christian Neyer. „Die Kinder werden durch die gemeinsame Schulzeit im Ort sozial und geografisch verwurzelt“, sagt auch Direktor Geißler. „Sie müssen nicht mit zehn Jahren schon zu Pendlern werden.“ Ab Herbst 2017 allerdings schon: Dann werden alle Zehnjährigen täglich die neun, zehn Kurven den steilen Berg hinunter nehmen und nach der Volksschule in die Schulen im Inntal gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2015)

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