Die neue Oberstufe und ihre Zeitbomben

Der stellvertretende Direktor, Erich Gabler, mit den gesammelten Protokollen der Semesterprüfung am Borg Neulengbach.
Der stellvertretende Direktor, Erich Gabler, mit den gesammelten Protokollen der Semesterprüfung am Borg Neulengbach. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Für schwache Schüler birgt die Reform, die das Sitzenbleiben nahezu abschafft, Gefahren. Woran es hakt.

Wien. Der Stapel reicht Erich Gabler fast bis zur Hüfte. All diese Zettel, die sich hier türmen, haben sich an seiner Schule in den vergangenen vier Jahren wegen der sogenannten neuen Oberstufe angesammelt. Es sind die Dokumentationen der Semesterprüfungen – einer Art kleiner Nachprüfung. Und von diesen gibt es am Bundesoberstufenrealgymnasium (Borg) Neulengbach seither unheimlich viele.

Die neue Oberstufe, die an den berufsbildenden höheren Schulen (BHS) und an Gymnasien und berufsbildenden mittleren Schulen (BMS) bis spätestens Herbst 2019 umgesetzt werden muss, ist zwar inhaltlich keine so große Umstellung wie von der Politik ursprünglich geplant, aber organisatorisch ein riesiger Aufwand. Mit der einst beabsichtigten flächendeckenden Einführung einer modularen Oberstufe (Most) hat die schlussendlich gesetzlich verordnete neue Oberstufe (Nost) nämlich nur wenig zu tun. Denn während Schüler in der modularen Oberstufe je nach Interesse eigene Module wählen können, ist das bei der neuen Oberstufe nicht möglich.

Es ist lediglich eine abgespeckte Variante. Dabei wird der gesamte Lernstoff in je ein Semester umfassende Module unterteilt. Das bringt auch Änderungen der Lehrpläne, die noch nicht abgeschlossen sind, mit sich. Die Schüler müssen jedes einzelne Semester positiv absolvieren. Eine negative Note im Halbjahr kann also nicht wie bisher durch die Leistung im nächsten Semester ausgebessert werden. Wird ein Modul negativ abgeschlossen, muss aber nicht die Schulstufe wiederholt, sondern nur das jeweilige Modul positiv absolviert werden. Dazu gibt es drei Versuche bei Semesterprüfungen. Klappt auch das nicht, kann trotzdem in die nächste Klasse aufgestiegen werden. Erst ab dem dritten angesammelten Fünfer bleibt man sitzen. Damit wird das Sitzenbleiben nahezu abgeschafft.

„Für einen guten Schüler ändert sich eigentlich nichts. Umso mehr aber für schwache Schüler“, bringt es der stellvertretende Direktor Gabler auf den Punkt. Dessen Schule, das Borg Neulengbach, ist das einzige Gymnasium, das die neue Oberstufe im Schulversuch bereits bis zur Matura geführt hat, und meldet die Kinderkrankheiten der Reform an das Bildungsministerium zurück: „Es gibt eine gute Gesprächsbasis, aber man hat uns auch gesagt, dass wir nicht erwarten dürfen, dass sich alles ändert, denn der Weg durch das Parlament sei ein weiter“, sagt Gabler.

200 Schüler, 120 Prüfungen

Dass es nicht nur in Neulengbach viele Änderungswünsche gibt, zeigt die Kritik der AHS-Lehrer und -Direktoren anlässlich der erst kürzlich zu Ende gegangenen Begutachtungsfrist. Gablers dringlichste Korrekturwünsche betreffen die Semesterprüfungen. Derer gebe es zu viele. Beim bislang letzten Termin in Neulengbach hat es insgesamt 120 Prüfungen bei nur 200 Schülern gegeben. Denn eine Limitierung, in wie vielen negativ abgeschlossenen Fächern man zu den Semesterprüfungen antreten darf, gibt es nicht. „Bei zehn Fünfern darf man zehn Prüfungen machen – und das drei Mal. Es gibt bei uns einen Schüler, der 27 Mal einen Fünfer eingefahren hat. Solche Extremfälle können das System lähmen“, sagt Gabler.

Die Semesterprüfungen sind nicht nur ein enormer Arbeits- und Dokumentationsaufwand für die Lehrer, sondern auch gefährlich für die Schüler. Die Erklärung dafür ist durchaus kompliziert: Angenommen, ein Schüler schließt im Wintersemester der sechsten Klasse das Mathematikmodul mit einem Nicht genügend ab, dann darf er maximal drei Mal zu einer Semesterprüfung antreten, um die negative Leistung auszubessern (siehe Grafik links unten). Dafür hat er maximal zwei Semester Zeit. In diesem Fall bis Ende des Wintersemesters in der siebenten Klasse.

Lässt er die zwei Semester ungenützt verstreichen oder schafft die Semesterprüfung drei Mal nicht, dann ist das Modul endgültig negativ. Wenn der Schüler die sechste Klasse nicht freiwillig wiederholt, nimmt er eine „Zeitbombe“, wie sie Gabler nennt, automatisch bis kurz vor die Matura mit. Denn bevor maturiert wird, müssen alle Module positiv abgeschlossen sein.

In der Zeit zwischen Beurteilungskonferenz der achten Klasse und der schriftlichen Matura – meist sind das rund zwei Wochen – muss die Semesterprüfung noch einmal absolviert werden, um zum Haupttermin antreten zu können. „Geht auch das schief, dann heißt es ,Auf Wiedersehen AHS und willkommen Maturaschule‘“, sagt Gabler in Anspielung auf die Abendmatura. „Diese Regelung ist absolut unpädagogisch. Man bekommt im Alter von 15 Jahren einen Fünfer. Den stellt man schlafend. Und wenn man die Prüfung im Alter von 18 Jahren nicht schafft, hat man nicht mehr als eine abgeschlossene fünfte Klasse.“

Mehr Klassenwiederholungen

Einen lauten Ruf nach Veränderung gibt es auch mit Blick auf die Maturaklasse. Denn wer das verkürzte Sommersemester in der achten Klasse in einem Fach negativ abschließt, der hat nur einen Versuch, die Semesterprüfung zu absolvieren und das Modul positiv abzuschließen, um zur Matura antreten zu können.

Die politische Erwartung, dass mit der Fast-Abschaffung des Sitzenbleibens Geld gespart werden könnte, dürfte sich nicht erfüllen. Denn zumindest in Neulengbach wird den Schülern aufgrund der „gefährlichen Zeitbomben“ zum freiwilligen Sitzenbleiben geraten. Der 20-jährige Andreas Gstöttner, der das Borg besucht, war in dieser Situation. Er hat sich nach seinem Nicht genügend in Englisch in der sechsten Klasse zu einer freiwilligen Klassenwiederholung entschieden. Die Fünfer aufzuschieben, war ihm zu gefährlich.

Gstöttner ist davor schon einmal sitzen geblieben. „Damals war es schon sehr fad, noch einmal in derselben Schulstufe zu sitzen.“ Diesmal war es anders. Das Borg nützt nämlich einen Passus zur Begabtenförderung, der es gestattet, Inhalte aus dem nächsten Schuljahr vorzuziehen. „Das ist der echte pädagogische Vorteil der Nost, der den Machern wohl passiert ist“, so Gabler.

Gstöttner hätte nur das Fach Englisch nachholen müssen. Alle anderen Module der sechsten Klasse hatte er bereits positiv abgeschlossen. Die Hauptfächer besuchte er allerdings freiwillig noch einmal. „Ich wollte den Anschluss nicht verlieren“, sagt Gstöttner. Zugleich zog er die Fächer Geschichte, Geografie und Physik aus der siebenten Klasse vor, um den Druck im nächsten Schuljahr zu minimieren. Dennoch hatte er in der Woche acht bis neun Freistunden. „Das waren schöne zwei Jahre.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2016)

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