London: Von der erfolgreichen Umstellung eines Schulwesens

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die London Challenge verbesserte die Leistungen von Brennpunktschulen deutlich. Ein mögliches Vorbild für Wien.

London. Der vor Kurzem erschienene Bildungsbericht hat bestätigt, was wir längst wissen: Österreich ist ein Land großer Bildungsungerechtigkeit und erbringt in Relation zum finanziellen Aufwand wenig zufriedenstellende Leistungen. In Wien schneiden vor allem die Pflichtschulen schlecht ab. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu: Seit es internationale Vergleichsstudien und vor allem österreichische Bildungsstandardtestungen gibt, wissen wir das. In der Sekundarstufe eins, also in den Neuen Mittelschulen, häufen sich die Probleme. Auch über die Ursachen ist viel bekannt.

Dass nach wie vor kein Gesamtkonzept für eine große Bildungsreform vorliegt, verschärft die Situation gerade in den Städten. Dass die Ressourcenzuteilung an Schulen trotz unterschiedlichster Bedürfnisse nach wie vor nach dem Gießkannenprinzip erfolgt, ist ebenso problematisch wie die Tatsache, dass die Mittelzuteilung für Wien nicht entsprechend angepasst wurde.

Eines steht jedenfalls fest: So kann es nicht weitergehen – vor allem in Wien nicht. Da die Abschaffung der Segregation im Alter von zehn Jahren nach wie vor in weiter Ferne liegt und als Einzelmaßnahme ohnehin wenig Änderung bringen würde, lohnt es sich, einen Blick dorthin zu werfen, wo die Umstellung von einem versagenden System zu einem Vorzeigemodell gelungen ist, nämlich nach London.

Der Vergleich mag verwundern, aber Wien ist in mancherlei Hinsicht eine so internationale Stadt wie London. In Wien geht man von bis zu 250 unterschiedlichen Erstsprachen aus, in London sind es nicht viel mehr, und das, obwohl London fünfmal so viele Einwohner wie Wien hat. Beide Städte haben mit großen Herausforderungen an ihren öffentlichen Schulen zu kämpfen. Privatschulen besuchen in London derzeit neun Prozent.

Viele verschiedene Hebel

Mitte der 1990er-Jahre war das Londoner Schulwesen auf einem Tiefpunkt. In den Schulen herrschte Disziplinlosigkeit, desillusionierte und ausgebrannte Lehrer fanden sich einer unmotivierten Schülerschaft gegenüber, in den sogenannten Brennpunktschulen schaffte eine Mehrheit der Abgänger am Ende der Schulpflicht die Mindestqualifikationen nicht. Hier setzte 2003, noch unter New Labour, ein umfassendes Reformprogramm an, das 2011 erfolgreich beendet wurde: die London Challenge.

Das Programm setzte an ganz verschiedenen Hebeln gleichzeitig an. Nicht das Scheitern stand am jeweiligen Standort im Zentrum, sondern das zu erreichende Ziel. Sowohl für die einzelne Schule wie für ganz London galt: alles dazu zu tun, um möglichst viele Kinder und Jugendliche ungeachtet ihrer Herkunft zu erfolgreichen Abschlüssen zu bringen. Einige zentrale Momente dabei waren die Stärkung und Qualifikation der Schulleitung, evidenzbasierte Schulpolitik auch an den Schulstandorten und das Einbeziehen der Familie. Ebenso wie die Beförderung eines positiven Lernklimas, hervorragender Unterricht, hohe Anforderungen an Leistung und begleitende Qualitätssicherung. Jede betroffene Schule erhielt einen Berater, ganz London einen Programmverantwortlichen.

Und es wurde Geld in die Hand genommen: Lehrer an sogenannten Brennpunktschulen wurden und werden noch immer höher bezahlt, und die Schulen erhalten mehr Ressourcen nach einer Art Sozialindex. 2016, fünf Jahre nach dem Ende der London Challenge, ist die Systemumstellung nachhaltig verankert. Noch immer liegen die Ergebnisse der Londoner Schulen, wie bereits seit acht Jahren, kontinuierlich über dem nationalen englischen Schnitt, Kinder aus Zuwandererfamilien zeigen sich besonders erfolgreich. Was uns hierzulande interessieren könnte: Die Zusammensetzung der Schülerschaft an den jeweiligen Schulen hat sich nur unwesentlich verändert, und, ja, es handelt sich allesamt um Gesamtschulen. Ein Blick auf diese Erfolgsgeschichte würde sich lohnen.

ZUR PERSON

Heidi Schrodt (*1950) war lange Direktorin des Gymnasiums Rahlgasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk. Sie ist Vorsitzende der Initiative Grenzenlos und hat ein Buch über Schule und Migration verfasst („Sehr gut oder Nicht genügend“, 2014). Zuletzt war sie zwei Monate lang in London und recherchierte dort über das Schulsystem.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2016)

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