"Ein EU-Literaturkanon von Sophokles bis Dostojewski"

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Wie wichtig ist ein Kanon für das Verständnis von Kunst? Und was ist eigentlich das Schöne? Bei einer Diskussion im Konzerthaus sprachen darüber unter anderem der Philosoph Konrad Paul Liessmann und Ex-Bildungs- und Kulturminister Rudolf Scholten.

Wien. Warum zerbricht sich nicht die EU-Kommission den Kopf darüber, wie ein Kanon europäischer Literatur aussehen könnte, der verbindlich an allen höheren Schulen gelehrt wird? Zentrale Werke, von Sophokles über Dante bis Dostojewski. „Irgendwann treffen dann in Palermo Erasmusstudenten aufeinander und reden über Studium und ECTS-Punkte. Aber sie könnten sich auch über europäische Literatur unterhalten.“

Diese Vision skizzierte Philosoph Konrad Paul Liessmann beim von der „Presse“ mitveranstalteten „Podium am Puls“ zum Thema „Vom Bildungsbürger zur Human Ressource: keine Zeit mehr für das Schöne?“ am Montagabend im Konzerthaus. Eine Idee von Bildung, von Kunst, von Schönheit, die ohne einen Kanon auskommen könne, könne er sich nicht vorstellen. „Es geht darum, die Sensibilität für Gelungenheit zu entwickeln und dafür, dass es in der Entwicklung der Künste Zusammenhänge gibt“, so Liessmann. „Ich verstehe nicht, worin das Verbrechen bestehen soll, jungen Menschen das verständlich zu machen.“ Der Ex-Kultur- und Bildungsminister Rudolf Scholten hatte zuvor einen anderen Zugang postuliert: „Wenn jemand vom Lehrer mit Enthusiasmus zu einem Segment verführt wird – und sei es finnische Lyrik –, dann ist die Chance größer, dass er weiterliest als wenn er mit dem Gewicht der Enzyklopädie erschlagen wird.“ Auf eine solche Idee sei aber einst sofort ein Aufschrei der Eltern gefolgt, sagte Scholten: „Da hieß es: Wenn man den literarischen Kanon nicht mehr intus hat, dann ist das das Ende des Bildungsbürgertums.“

Das Schöne ist nicht nützlich

Der Bedeutung des Enthusiasmus stimmte das von „Presse“-Herausgeber Rainer Nowak moderierte Podium – noch besetzt mit Mäzenin Gheri Sackler (Wiener Lerntafel), Kurt Koleznik (FH-Konferenz) und Gerald Wirth (Sängerknaben) – zu. Die Definition des „Schönen“ war indes komplizierter. Für Liessmann ist das Schöne jedenfalls das Gegenteil des Nützlichen. Und: „Wäre das Schöne etwas, das Menschen optimiert, ihnen mehr Kraft gibt, einen besseren Platz in der Gesellschaft, mehr Leistungsfähigkeit, würden alle nach dem Schönen gieren.“

Wirth erzählte – Stichwort Humanressource –, dass die Beschäftigung mit dem Schönen – von Theaterspielen bis Musizieren – für kanadische Ölmanager mitunter ein Kriterium bei der Personalauswahl sei. Koleznik argumentierte, dass auch ein Fachhochschulabschluss „sehr viel Schönes“ bringe: einen erfüllenden Job etwa. Scholten wiederum betrachtete das Schöne und die Kunst auch unter dem Aspekt von Integration und Empowerment: um die Menschen in die Lage zu versetzen – oder in ihnen das Bedürfnis zu wecken –, etwas selbst in die Hand zu nehmen. Und Sackler vermisste die Beschäftigung mit dem Schönen in der Schule. „Es ist ein großes Manko, dass viele Kinder keinen Zugang zu den Künsten mehr haben.“ (beba)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2017)

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