Freud und der Traum von der Reife

Sigmund Freud
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Die Matura verfolgt viele bis in den Schlaf. Auch der Vater der Psychoanalyse schrieb darüber. Zur Griechischmatura hatte er eine Stelle aus dem „König Ödipus“ bekommen.

„Wenn ich mich nicht scheute, das nichtswürdigste Witzwort unseres Jahrhunderts auszuschreiben, dürfte ich billig sagen: ,Die Matura ist tot, es lebe die Matura.‘ Aber der Witz gefällt mir so wenig, dass ich lieber wollte, auch die zweite Matura wäre vorbei.“

Das schrieb Sigmund Freud 1873 in einem Brief an seinen Freund Emil Fluss, er war 17 und in jener merkwürdigen Zwischenzeit, in der spätestens ab 13. Mai auch heuer wieder Zehntausende junge Österreicherinnen und Österreicher sein werden: zwischen schriftlicher und mündlicher Matura. Halbreif sozusagen. Dass sich das Wort für die Abschlussprüfungen vom lateinischen Wort für „reif“ ableitet, trägt wohl zu deren ernster, schicksalhafter Aura bei; die in Deutschland übliche Bezeichnung Abitur – von „abire“, davongehen – wirkt viel nüchterner, sachlicher, weniger bedeutsam.

Im Falle Freuds sollten sich zumindest zwei seiner schriftlichen Maturaarbeiten im Nachhinein als bedeutsam erweisen. Zur Deutschmatura bekam er, wie er an Fluss schrieb, „ein hoch sittliches Thema“, nämlich „Über die Rücksichten bei der Wahl des Berufes“. Die Arbeit wurde mit „Ausgezeichnet“ beurteilt, dem jungen Freud bescheinigte sein Deutschlehrer, „dass ich das hätte, was Herder so schön einen idiotischen Stil nennt, das ist ein Stil, der zugleich korrekt und charakteristisch ist“. Man kann dem Professor am Leopoldstädter Realgymnasium – das seit 1989 Sigmund-Freud-Gymnasium heißt – da nur recht geben.

Das Thema von Freuds Griechischmatura wirkt geradezu wie ein Orakel: Zu übersetzen war eine Stelle aus Sophokles' „König Ödipus“, aus jenem Drama also, das Freud sein Leben lang beschäftigen sollte.

Ob er je davon geträumt hat? Zumindest hat er es in seiner „Traumdeutung“ nicht erwähnt. Über die Situation der Matura an sich hat er offenbar geträumt. „Jeder, der mit der Maturitätsprüfung seine Gymnasialstudien abgeschlossen hat, klagt über die Hartnäckigkeit, mit welcher der Angsttraum, dass er durchgefallen sei, die Klasse wiederholen müsse u. dgl., ihn verfolgt.“ Man darf hinzufügen, dass es nicht unbedingt die Matura sein muss, die einen in den Schlaf verfolgt: Der Autor dieser Zeilen hat z. B. nie von dieser geträumt (oder waltet in ihm da eine besondere Zensur?), dafür aber davon, dass er plötzlich draufkommt, dass ihm für den akademischen Titel überraschenderweise noch ein Beispiel aus dem Organisch-chemischen Praktikum für Fortgeschrittene fehlt, dieses aber im Labyrinth der chemischen Institute in/unter der Wiener Währingerstraße nicht zu finden ist . . .

Freud erklärte die Träume von dem „,Dies irae, dies illa‘ der strengen Prüfungen“, wie er es mit einem Zitat aus dem lateinischen Requiem nannte, zunächst überraschend naheliegend: „Nachdem wir aufgehört haben, Schüler zu sein, sind es nicht mehr wie zuerst die Lehrer und Erzieher oder später die Lehrer, die unsere Bestrafung besorgen; die unerbittliche Kausalverkettung des Lebens hat unsere weitere Erziehung übernommen, und nun träumen wir von der Matura oder von dem Rigorosum – und wer hat damals nicht selbst als Gerechter gezagt –, sooft wir erwarten, dass der Erfolg uns bestrafen werde, wir etwas nicht recht gemacht, nicht ordentlich zustande gebracht haben, sooft wir den Druck einer Verantwortung fühlen.“

Später im Kapitel kommt eine Erklärung, die „freudianischer“ anmutet, nämlich . . . – Aber darf ich noch einmal anekdotisch werden? Bei meiner mündlichen Matura aus Philosophie/Psychologie durfte ich, nachdem ich mehr schlecht als recht über den Wiener Kreis dilettiert hatte, bei der zweiten Frage über Freuds Traumtheorie reden. Das tat ich, erzählte brav über den Traum als Wunscherfüllung, erklärte eifrig, dass sich hinter dem manifesten Trauminhalt der latente, meist anstößige Inhalt verberge usw., als der Vorsitzende der Reifeprüfungskommission, ein jovialer Humanist, meinen Redefluss mit einer Zwischenfrage unterbrach: „Also wenn Sie einmal von der Matura träumen sollten, wovon träumen Sie dann wirklich?“

Mit der felsenfesten Gewissheit eines Mannes, der seinen Freud gelesen hat, antwortete ich ohne Zögern: „Von sexueller Reife und Erprobung.“

Diese Deutung ist zwar eigentlich von Wilhelm Stekel, Freud zitierte sie nur wohlwollend. Aber mir war großer Lacherfolg beschieden.

Der Autor hat 1982 maturiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2017)

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