Haider: Gesamtschule könnte PISA-Problem entschärfen

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Interview. Der Zuständige Günter Haider sieht keine Nachteile beim PISA-Test für Österreich. Lehrer müssten stärker fördern, Eltern mehr für die Lesekompetenz der Kinder tun.

Die Presse: Österreich wird bei der PISA-Studie im Dezember abstürzen, heißt es jetzt schon. Wovon ist nach den früheren Studien auszugehen?

Günter Haider: Vor dem 7. Dezember wird es kein Wort zur neuen Studie geben. Aber die früheren Studien zeigen, dass wir unser Begabungs- und Leistungspotenzial bei Weitem nicht ausschöpfen. Wir waren im besten Fall Mittelmaß, beim Lesen unterdurchschnittlich.

Was ist schiefgelaufen?

Vier Faktoren zählen: Begabung und Motivation des Schülers, Unterstützung und Bildung der Eltern, Qualität von Kindergarten und Schule und viertens die Gesellschaft, sozioökonomische Faktoren. Beim Lesen, das von sechs bis acht erworben wird, hat neben der Schule die familiäre Unterstützung erheblichen Einfluss. Je später eine Kompetenz erworben wird, desto eher zählt die Schule.

An besonders schlechten Leseergebnissen sind also eher die Eltern als die Schulen schuld?


Nein, es ist ein Zusammenwirken. Ein Viertel der Kinder, die in die Volksschule kommen, kann schon lesen. Ein Viertel versteht im Gegensatz die Unterrichtssprache kaum. Die Wurzel liegt oft im sozioökonomischen Hintergrund der Eltern. Er wirkt sich in Österreich noch bei 15-Jährigen überdurchschnittlich aus. In Finnland, mit seinen Ganztagsschulen, ist das anders.

Das heißt, Österreich braucht mehr davon?

Ja, dort kann man viel kompensieren. Die Politik plant auch den Ausbau. Bedarf gibt es in Österreich für 40 bis 50 Prozent der Schüler.

Wächst eine Generation von Analphabeten heran?

Wir haben einen relativ hohen Anteil an Risikoschülern. Bei PISA 2006 waren es 22 Prozent, die nicht sinnerfassend lesen konnten. Das ist eklatant. Daher: Lehrer müssen ihre Schüler besser individuell fördern, das müssen sie auch besser in der Lehrerausbildung lernen. Die Lehrer brauchen aber auch bessere Bedingungen: zum Beispiel einen zweiten Lehrer an Grundschulen. Finnen haben an den Schulen ein Vielfaches an Unterstützungskräften wie Zweitlehrer, Sozialarbeiter.

Ist PISA eher ein schlechtes Zeugnis für die Lehrer als für die Schüler, die in Österreich grundsätzlich ja sicher nicht dümmer sind als in Finnland?


Im Gegenteil. PISA zeigt, dass viele Lehrer eher Opfer des veralteten Systems sind. Wir hatten bei PISA 2006 zehn Prozent Schüler, die sowohl beim Lesen als auch bei Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern riesige Probleme hatten. Es gibt in Österreich weiterführende Schulen mit 30 bis 50 Prozent Risikoschülern. Das ist eine enorme Herausforderung für die Lehrer, die oft dafür nicht ausgebildet wurden. Natürlich brauchen wir die besten Lehrer an den Schulen und Berufseingangsphasen, in denen Lehrer ausgesiebt werden. Doch es droht ein erheblicher Lehrermangel, wie soll man da künftig auswählen?

Können Sie ausschließen, dass Lehrer den PISA-Test 2009 boykottiert, also die Schüler zu mäßigen Leistungen angehalten haben, weil sie auf Unterrichtsministerin Claudia Schmied sauer waren? Schmied hatte kurz vor PISA mehr Unterrichtsstunden für die Lehrer gefordert.

Ich weiß, dass es damals einen heftigen Kampf der Lehrergewerkschaft mit der Ministerin gab. Aber die Teilnahmequote der Schulen an PISA war wie üblich extrem hoch. Allerdings wollten diesmal 218 der 6500 getesteten Schüler die PISA-Testhefte nicht ausfüllen – etwas mehr als sonst. Wir können und wollen niemanden zwingen. Die Hefte solcher Verweigerer werden aussortiert, die OECD prüft das genau.

Lässt sich von PISA ein eindeutiger Schluss auf das beste Schulsystem ziehen? Zum Beispiel auf die Gesamtschule oder auf das differenzierte System?

Nein, denn die Schule macht vielleicht 20 bis 30 Prozent des PISA-Ergebnisses aus – neben vielen Faktoren wie Begabung, Elternhaus oder Peergroups,  die wir nicht beeinflussen können. Die Gesamtschule hätte aber einen großen Vorteil: Die Entscheidung über den Bildungsweg würde noch nicht mit zehn fallen, wäre also fairer, auch für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Mit der Gesamtschule hätten wir das PISA-Problem zwar sicher nicht gelöst, sie könnte aber langfristig zur Verbesserung beitragen.

Wie ist das mit den Migranten? Sie sollen die PISA-Ergebnisse in Österreich ja stark drücken.


Grundsätzlich haben Kinder mit Migrationshintergrund in Österreich bei PISA bisher deutlich schlechtere Leistungen erbracht, der Unterschied war größer als in den meisten anderen Ländern. Anders als während der Balkankriege gibt es heute mehr Kinder von Arbeitsmigranten, mit bildungsferneren Eltern und sozioökonomisch schlechteren Bedingungen. Allerdings sind mehr als zwei Drittel aller Risikoschüler bisher immer Einheimische, Deutschsprachige. Anders ist das in Kanada oder Australien, wo eine restriktivere Einwanderungspolitik betrieben wird und bei PISA die Migranten teils besser abschneiden.

Kritiker sagen, PISA hätte Schwächen und würde manche Nationen bevorzugen. Etwa, weil Multiple-Choice-Fragen in den USA eher bekannt seien.

Ich bin überzeugt, dass PISA nicht systematisch benachteiligt. Die Österreicher haben dieselbe faire Chance. Und nur ein Teil sind Multiple-Choice-Fragen, wobei die Österreicher bei diesen eher besser abschneiden als bei anspruchsvolleren offenen Fragen.

Ist es aufgrund der Stichprobe, der Auswahl der PISA-Schüler, möglich, dass die Österreicher doch nicht so schlecht sind, wie es in der Studie steht?


Im Gegenteil. Bei der Stichprobe haben wir den Vorteil, dass in Österreich sechs Prozent eines PISA-Jahrgangs die Schulpflicht schon erfüllt haben, also nicht am Test teilnehmen. Dabei waren das oft schlechte Schüler. Mit ihnen würden wir noch einige Plätze verlieren.

Kommen keine großen Bildungsreformen: Fällt PISA 2012 dann noch schlechter aus?

Förderung und Diagnostik an den Schulen sollten besser werden, da ist die Lehrerbildung gefragt. International wird zügig reformiert. Versäumen wir das, werden wir weiter an Boden verlieren.

Wer ist für PISA 2010 politisch verantwortlich? Ministerin Schmied oder ihre Vorgängerin Gehrer?

Mein Gott. Die beiden haben die Schüler ja nicht selbst unterrichtet. Ein Unterrichtsminister hat einen langfristigen Einfluss auf das Schulsystem und auf PISA.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2010)

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