Das forschende Klassenzimmer

forschende Klassenzimmer
forschende Klassenzimmer(c) Fabry
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Grazer Bildungs- und Schulforscher entwickeln neue Modelle, mit denen Schülern und Lehrern in der neuen schulischen Realität geholfen werden kann.

Der Ertrag eines Bausparvertrages ergibt 2340 €. Frau Maier lässt den Betrag 5 Jahre bei einer Verzinsung von 2,7% ruhen. Welchen Betrag bekommt sie nach 5 Jahren? An Textaufgaben wie dieser aus einer 8. Schulstufe werden sich viele wohl noch gut erinnern – und vielleicht auch daran, dass sie daran gescheitert sind. Und zwar nicht, weil man etwa die Mathematik dahinter nicht begriffen hätte, sondern eher deshalb, weil man mit der Sprache, mit den Fachausdrücken und deren Zusammenhang nichts anfangen konnte.

Jetzt stelle man sich vor, ein Schüler mit einer anderen Muttersprache wird auf diese Aufgabe losgelassen. Der Fünfer, den er sich vielleicht einfängt, bedeutet dann nicht unbedingt, dass er in Mathematik schlecht ist, sondern dass er möglicherweise an der Sprache gescheitert ist.

Dieses Beispiel mag simpel klingen, doch es wird in unseren Schulen immer relevanter. Laut Schulstatistik verwenden mehr als 18 Prozent aller Schüler und Schülerinnen in Österreich in ihrem Alltag neben Deutsch eine andere Sprache, an den Pflichtschulen liegt der Anteil sogar bei etwas über 23 Prozent. Zudem werden auch die Kinder nicht weniger, die in einem – wissenschaftlich ausgedrückt – „eher spracharmen Milieu“ aufwachsen.

In heutigen Schulen, so kritisiert Sabine Schmölzer-Eibinger, werde diesen Schülern zu wenig geholfen. Sie erforscht am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz die Rolle, die die Sprache als Werkzeug des Lernens spielt – und zwar abseits des Sprachunterrichts im Fachunterricht. Ihr Credo: „Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des Lernens.“

Fehlt die Textkompetenz, dann könnten die Lernangebote des Unterrichts nicht immer ausreichend genutzt werden. Das gilt auf allen Ebenen: auf Textebene genauso wie auf Satz- und Wortebene. Bei der Einschulung beträgt der „produktive“ Wortschatz in der Erstsprache rund 5000 Wörter, der „rezeptive“ 15.000 Wörter. Pro Schuljahr werden in allen Fächern zusammen rund 3000 neue Wörter eingeführt, am Ende der Regelschulzeit steigt der Wortschatz auf 15.000 bzw. 60.000 Wörter. „Die Probleme von Schülern mit eingeschränkter Textkompetenz werden im Laufe der Schulzeit meist nicht kleiner, sondern im Gegenteil immer größer“, betont Schmölzer-Eibinger.


Mehr Sprachförderung. Sie plädiert für eine stärkere Verankerung der Sprachförderung in der Aus- und Weiterbildung von Lehrern – in allen Fächern. „Lehrer bräuchten begleitend ein Coaching“, so die Forscherin. Nachsatz: „In Deutschland passiert da sehr viel, in Österreich leider noch zu wenig.“ Schmölzer-Eibinger macht sich aber auch über die Sprachqualität Gedanken: Sprache soll keine Hürde, sondern vielmehr ein Werkzeug des Lernens sein. Das gilt besonders für Schulbücher. Sie hat daher kürzlich den Leitfaden „Sprache in Schulbüchern“ erstellt, mit dem Schulbuchautoren Verständnisprobleme vermeiden können.

Für die Sprachförderung gebe es zwar schon eine Reihe von Methoden – „aber noch zu wenige“. Es bestehe Forschungsbedarf, v.a. an empirischen Studien mit Bezug zur Praxis. Diese Forschungen sind eingebunden in den Schwerpunkt „Pädagogenbildung neu“ der Uni Graz. Wegen der enormen gesellschaftlichen Veränderungen in den Schulen soll dieser Schwerpunkt ausgebaut werden, macht Martin Polaschek, Vizerektor für Studium und Lehre, deutlich. „Wir wollen für Lehrer Anreize schaffen, sich wissenschaftlich zu betätigen.“

Geforscht wird für alle Altersstufen, beginnend im Kindergarten. Cornelia Wustmann, Österreichs erste Professorin für Frühkindpädagogik, stützt sich auf den Grundgedanken, dass sich Kinder durch forschende Auseinandersetzung mit der Welt bilden. Dieses „forschende Lernen“ soll in einem Projekt gemeinsam mit Schülern, Lehrern und pädagogischen Fachkräften ergründet werden – mit dem Ziel eines neuen didaktischen Verständnisses für die Ausbildung und neuer Forschungs- und Lernszenarien.

Ähnliches hat auch Agnieszka Czejkowska, Professorin für Lehrerbildung und Schulforschung, im Sinne. Sie leitet das Projekt „Facing the Differences“ – gefördert im Programm „Sparkling Science“ vom Wissenschaftsministerium –, in dem neue Unterrichtsmethoden auf ihre Tauglichkeit als Lehr-Lern-Arrangements untersucht werden. Im Fokus steht dabei die Diversität: „Es gibt in unserer von Globalisierungsprozessen gekennzeichneten Gesellschaft keine homogenen Unterrichtsgruppen oder Klassen“, sagt Czejkowska. Die Ausbildungskonzepte beruhten aber noch auf stabilen Identitäten wie Geschlecht, Nationalität und sozialer Herkunft. Geforscht wird auch hier gemeinsam mit Schülern, Lehrern und Studierenden, in drei „Research Studios“ wird eine Art „forschendes Klassenzimmer“ realisiert.

Ein Ziel ist auch die pädagogische Professionalisierung. Die Forschung ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber eine Folgerung kann Czejkowska bereits ziehen. „Globalisierung und Pluralität wirken sich eindeutig auf pädagogische Berufe aus.“ Insbesondere was das Selbstverständnis der Lehrer betrifft – und die Instrumente, derer sie sich bedienen müssen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2012)

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