Kreuz im Kindergarten: Erlauben statt gebieten

(c) Clemens Fabry
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Das beim Verfassungsgerichtshof anhängige NÖ-Kindergartengesetz ließe sich relativ einfach so umgestalten, dass es jedenfalls auch einer Prüfung durch den Gerichtshof für Menschenrechte standhielte.

Linz. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) beschäftigt sich in seiner laufenden März-Session neuerlich mit dem Niederösterreichischen Kindergartengesetz. Dieses sieht vor, dass in Kindergärten, an denen die Mehrzahl der Kinder einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, ein Kreuz anzubringen ist. Sollte es diesmal zu einer Entscheidung kommen, dann wohl eher in Form einer Zurückweisung des Gesetzesprüfungsantrages(eines Kindesvaters), weil die rigorosen Prozessvoraussetzungen nur schwer zu erfüllen sind. Eine inhaltliche Erledigung wäre demgegenüber strategisch wenig sinnvoll, weil gegenwärtig auch im Fall „Lautsi gegen Italien“, der offensichtlich den österreichischen Beschwerdeführer zu seinem Gang vor den VfGH animiert hat, noch keine verbindliche Entscheidung vorliegt: Das Urteil der 2. Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR am 3. November 2009) musste auf Begehren Italiens der Großen Kammer des EGMR vorgelegt werden. Darin wird intensiv über die Enderledigung des Falles beraten.

Dabei hat sich der EGMR selbst in eine Zwickmühle hineinmanövriert. Ausgangspunkt ist eine vereinzelt bereits in der Antike und im Mittelalter vertretene Meinung, die dann erst wieder im 18./19. Jahrhundert vom anglo-amerikanischen Raum ausgehend Bedeutung erlangt hat: Nach ihr ist für das Funktionieren einer Demokratie ein effektiver „Säkularismus“ unabdingbar. Darunter ist die Forderung zu verstehen, dass staatliche Institutionen und Entscheidungen von religiösen und weltanschaulichen Einflüssen strikt zu trennen sind. Wenn der EGMR bisher nur in 17 von rund 100.000 Entscheidungen den Begriff „secularism“ gebraucht hat, könnte das den (Fehl-)Schluss nahelegen, dass dieser kaum ein tragendes Prinzip der Europäischen Menschenrechtskonvention sei. Tatsächlich wird der Säkularismus in der Judikatur des EGMR erst seit zehn Jahren wahrgenommen; er hat aber vor dem Hintergrund faktischer gesellschaftlicher Veränderungen innerhalb kürzester Zeit eine vorrangige Bedeutung im Zusammenhang mit der Religions- und Bildungsfreiheit erlangt. Diesen Befund vermag auch der Umstand, dass die EGMR-Entscheidungen bisher unmittelbar nur zwei Länder, nämlich die Türkei und Frankreich, betroffen haben, nicht zu schmälern. Sie und die Schweiz sind nämlich die einzigen Europaratsstaaten, die den Säkularismus explizit in der Verfassung verankert haben.

Säkularismus als Bauprinzip

Tatsächlich bekennt sich mittlerweile aber im Wege der Judikatur der Verfassungsgerichte (z. B. des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Sonntagsschutz) die große Mehrheit der Staaten des Europarates zu diesem Prinzip. Von den Türkei-Fällen ausgehend hat der EGMR den Säkularismus schrittweise zu einem auch den Garantien der EMRK immanenten Bauprinzip hochstilisiert. Dessen rechtliche Bedeutung besteht darin, dass dem Staat bei der Gestaltung seiner Rechtsbeziehungen zu den religiösen und weltanschaulichen Institutionen zwar grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum („margin of appreciation“) zukommt; bei dessen konkreter Umsetzung ist aber das Prinzip der Neutralität zu wahren. Die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen sind untereinander gleich zu behandeln, sodass es auf Kriterien wie Mitgliederzahl, Dauer der Tradition etc. nicht ankommt. Und: Minderheiten sind vor einer Ausgrenzung und Stigmatisierung besonders zu schützen. All dies zusammenfassend hat der EGMR im Fall „Dogru gegen Frankreich“ (4.Dezember2008) festgestellt, dass in „vertikaler Richtung“, nämlich bei der Umsetzung des Säkularitätsprinzips von Staats wegen, umfangreiche positive Vorsorgemaßnahmen zu treffen sind. Im Interesse des Pluralismus und der Freiheit anderer soll sichergestellt werden, dass Manifestationen einer Glaubensminderheit – insbesondere im Schulbereich – nicht in eine (ungewollte) Provokation münden, die zu einem Druck auf den betreffenden Schüler selbst oder zu dessen Ausgrenzung führt. Andererseits treffen die Berechtigten korrespondierende Verpflichtungen: Wer sich etwa weigert, beim Turnunterricht das Kopftuch abzulegen, kann sich nicht auf die Religionsausübungsfreiheit (Art. 9 EMRK) berufen.

Widerstreitende Ziele

Die Religionsfreiheit hat neben der „vertikalen“,auf das Verhältnis Staat/Einzelner gerichteten Dimension auch eine „horizontale“ zwischen den Anhängern unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Wenn nun der Staat insoweit eine wechselseitige Respektierung zu gewährleisten hat, so nehmen die Atheisten eine besondere Stellung ein: Ihr Interesse richtet sich nicht auf Positives (ausüben lassen), sondern auf ein Negativum (freihalten von). Ihnen muss ein Staat, der sich (wie Italien) zum Säkularismus bekennt – so die 2. Kammer des EGMR im Fall Lautsi –, eine Freiheit von jeglicher religiöser Beeinflussung gewährleisten. Er darf also z.B. in Pflichtschulen nicht die verpflichtende Anbringung von Kruzifixen vorsehen. Damit erhebt sich aber folgendes, von der 2. Kammer offenbar nicht deutlich genug gesehenes rechtssystematische Problem: Wie soll für Gläubige die in Art. 9 EMRK garantierte Ausübungsfreiheit effektiv möglich sein, wenn in ein und demselben Erziehungsverband (Klasse, Schule, etc.) gleichzeitig den Atheisten ein Recht auf Nichtkonfrontation mit religiösen Riten und Symbolen gewährleistet ist?

Dass es dabei eigentlich weniger um echte Glaubens- oder Religionskonflikte geht, sondern fundamentale gesellschaftliche Wertekonkurrenzen zur Diskussion stehen, macht diese Problematik noch brisanter. Eine Lösung kann offensichtlich nur in einem Rücksichtnahmegebot bestehen, das notwendig aus konkurrierenden Grundrechtsansprüchen resultiert.

Eine permanente Präsenz des Kreuzes (Minaretts etc.) an einem gemeinschaftlichen öffentlichen Ort, an dem man begründeterweise zum Aufenthalt genötigt ist, mag einen Atheisten ebenso prägen oder verunsichern wie seine dauerhafte Absenz einen Christen (Moslem etc.). Eine negative Lösung, d.h. ein generelles staatliches Symbolverbot (z.B. für Kreuze in Schulen und Kindergärten oder für den Bau von Minaretten), würde aber die Religionsausübungsfreiheit jedenfalls beeinträchtigen. Eine positive Ausgleichslösung könnte etwa sein: kein Gebot, sondern ein bloßes Nichtverbot für das Kreuz (und Symbole anderer Religionen); gleichzeitig müsste damit aber zugelassen werden, dass z. B. ein Plakat „Gott ist tot“ aufgehängt oder – wie auf stadteigenen Londoner Bussen – die Aufschrift „There is probably no god. Now stop worrying and enjoy your life“ angebracht wird. Da solche Lösungen aber eine kritische Reflexionsfähigkeit und damit ein bestimmtes Mindestalter voraussetzen, sind sie wohl erst für Teenager oder Erwachsene geeignet und für Orte, die überwiegend von solchen Personen genutzt werden. Weil Kindergartenkinder noch nicht sinnerfassend lesen können, müssen die entsprechenden Inhalte mit anderen Mitteln (z.B. durch Symbole oder verbal) transportiert werden. An diesem Punkt darf aber der Umstand, dass die Atheisten (noch) kein in seiner Breiten- und Tiefenwirkung dem Kreuz adäquates Gesinnungssymbol haben, nicht zu einem Verbot des Kreuzes, des Halbmondes oder des Davidsternes und damit zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit von Gläubigen führen. Allerdings müssen auch Atheisten ein Symbol entwickeln und es künftig gleichberechtigt neben dem Kreuz verwenden dürfen – entsprechende Vorschläge (insbes. Variationen mit „A“) gibt es viele, an einer Vereinheitlichung fehlt es allerdings bislang.

Generelles Verbot ginge zu weit

Sofern der VfGH für Österreich nicht – etwa im Hinblick auf das Konkordat 1933/34 – a priori eine geringere Reichweite des Säkularismus als in der Türkei, in Frankreich oder in der Schweiz annimmt, würde sich zusammenfassend ein verpflichtendes staatliches Kreuzgebot als ebenso verfassungswidrig erweisen, wie ein Verbot des Anbringens eines Kreuzes oder anderer Symbole an öffentlichen Orten die Religionsausübungsfreiheit verletzen würde; eine Nichtregelung des Gesetzgebers oder eine neutrale Formulierung z. B. in der Form: „In den Gruppenräumen können religiöse und weltanschauliche Symbole angebracht werden“ wäre demgegenüber wohl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Dass der EGMR bisher keine Mindestanforderungen definiert hat, die eine bestimmte Werthaltung erreichen muss, um Schutz nach Art. 9 EMRK beanspruchen zu können, ist freilich eine andere Geschichte...

Hofrat Dr. Alfred Grof ist Mitglied des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2011)

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