Südtirol: Wo die Gesamtschule längst Alltag ist

Suedtirol Gesamtschule laengst Alltag
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Die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen ist südlich des Brenners seit Jahrzehnten etabliert. Schüler mit Behinderung werden mit den Klassenbesten unterrichtet.

Brixen. „Freiarbeit“ steht in dicken Lettern auf dem Stundenplan der dritten Klasse Mittelschule. Das bedeutet für die 21 Schüler, dass sie sich selbstständig mit dem Lernstoff auseinandersetzen sollen – jeder in seinem Tempo und auf seinem Lernniveau. Und das ist doch recht unterschiedlich: Wenn sich eine Hand hebt, will der eine 13-Jährige wissen, welcher Attributsatz denn in die Lücke zu füllen ist. Ein anderer möchte überhaupt nochmal hören, was denn so ein Attributsatz überhaupt ist.

Für Lehrerin Alexandra Wiegele bedeutet das jede Menge Arbeit. Sie unterrichtet in der deutschsprachigen Mittelschule „Michael Pacher“ im Südtiroler Brixen. Und in Südtirol, wie überhaupt in ganz Italien, werden Schüler im Alter zwischen zehn und 14 in einer gemeinsamen Schule unterrichtet.

Wiegele unterrichtet Schüler, die bis zu fünf verschiedene Wissensstände in Bezug auf den Lehrplan haben. „Meistens bereite ich zwei verschiedene Zugänge zu einem Thema vor, manchmal auch drei.“ Es funktioniere aber erstaunlich gut. Wenn bessere Schüler mit ihren Aufgaben fertig sind, machen sie neue dazu. „Gewartet wird so gut wie nie.“ Ob da nicht eine Neiddebatte entstehen würde – einige Kinder würden ja mehr Aufgaben machen? „Nein – wenn man das nicht thematisiert, ist das kein Problem“, meint Wiegele.

Das Modell der Gesamtschule ist in Italien seit Jahrzehnten etabliert. Auf dieser Seite des Brenners hingegen sorgt es für Streit in der rot-schwarzen Koalition. Wiens Bürgermeister Michael Häupl hat erst vergangene Woche die Gesamtschule zur Koalitionsbedingung nach der Wahl gemacht, die ÖVP ist davon nur wenig begeistert. Eine Ausnahme stellt Tirols Landeschef Günther Platter dar. Für ihn gilt diese Schulform als Vorbild – wohl auch deshalb, weil die norditalienischen Schüler bei den Pisa-Tests meist besser als die österreichischen abschneiden (siehe Grafik).

Das Schulsystem in Südtirol funktioniert dabei so: Nach fünf Jahren Grundschule besuchen alle Kinder auch eine gemeinsame dreijährige Mittelschule. Erst nach diesen acht Schulstufen müssen sie sich entscheiden, welchen Bildungsweg sie weiter einschlagen: Besuchen sie eine sogenannte Oberschule, bei der sie nach fünf Schuljahren die Matura bekommen – oder entscheiden sie sich für eine Landesberufsschule?

Für Elisabeth Flöss, Direktorin der Mittelschule „Michael Pacher“, ist es ein Vorteil, dass Kinder erst relativ spät getrennt werden. „Hier haben wir alles: gesunde Kinder, Schüler mit Behinderung, aus verschiedenen Ländern und sozialen Schichten“, meint sie. Das sei wichtig – so unterschiedlich wie die Klassen sei das Leben schließlich auch. „Je früher sich der Mensch daran gewöhnt, desto besser“, sagt Flöss.

Wahlpflichtfächer im Angebot

Ob denn auf diese Weise – wie viele Kritiker in Österreich anmerken – nicht entweder die schwächeren oder besseren Schüler auf der Strecke bleiben? „Das ist eine Illusion“, meint sie. „Lernen kann man nicht verhindern.“ Das sei auch alles eine Frage der Vorbereitung des Lehrers. Und: „Wir haben hier Programme zur Begabtenförderung, Nachhilfestunden, Wahlpflichtfächer und Wahlfächer.“ Das sei eine weitere Möglichkeit, einen Teil des Unterrichts an die jeweiligen Schüler anzupassen. Aber es sei natürlich auch eine Herausforderung und viel Arbeit, nicht immer laufe alles ideal.

Aber Inklusion sei in jedem Fall wichtig, meint Flöss. In der Mittelschule „Michael Pacher“ gibt es insgesamt 400 Schüler, sieben davon haben eine schwere Behinderung. Hinzu kommen einige mit Lernschwächen bzw. Teilleistungsstörungen. Dafür gibt es aber sogenannte Integrationslehrer, die bei gewissen Fächern die Lehrer unterstützen.

Auch Wiegele greift auf diese Hilfe zurück. Dass sich das Modell bewährt, davon ist auch sie überzeugt: Immerhin werden 19 von 21 Schülern im nächsten Schuljahr eine Oberschule besuchen.

Pisa
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2013)

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