Gerüstet für die Realität? Leben nach der Waldorfschule

Geruestet fuer Realitaet Leben
Geruestet fuer Realitaet Leben(c) Clemens Fabry
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Immer wieder haben Absolventen der Waldorfschule Schwierigkeiten, sich von der esoterisch-kreativen Schulwelt auf das Leben draußen umzustellen. Realitätsfremde Träumer werden hier dennoch nicht geschaffen.

Pflügen, Ernten, Säen, Brotbacken, Stricken, Häkeln und Tischlern: Diese Dinge stehen im Lehrplan der Waldorfschule – neben Deutsch, Mathematik und all den anderen Fächern, die es auch in Regelschulen gibt. In Waldorfschulen haben Kopf, Hand und Herz gleichwertige Bedeutung – ein Konzept, das die einen als erfolgreichste reformpädagogische Initiative des 20.Jahrhunderts ansehen, während es die anderen als zu wenig leistungsorientiert, esoterisch oder gar als weltfremd bezeichnen.

„Man sitzt nicht nur im Kreis und singt irgendwelche Lieder“, sagt Julia Salcher. Die 25-jährige Medizinstudentin hat selbst eine Waldorfschule absolviert und ärgert sich über das Bild, das in der Öffentlichkeit über diese Schulform vorherrscht. Heute steht sie kurz vor Abschluss ihres Medizinstudiums. Dass sie ebenso viel und gut lernen kann wie Schüler aus dem Regelschulsystem, hat sie spätestens bewiesen, als sie die Matura an einer öffentlichen Schule nachholte. Denn obwohl Waldorfschulen als Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht anerkannt sind: Maturafähig sind sie nicht.

Zwölf Jahre lang ging die Jus-Studentin Alenka Schmidbauer in die Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer. Zwölf Jahre, in denen sie im gleichen Klassenverband blieb und sich ihre Beurteilungen zumeist auf verbale Berichte beschränkten. Leistungsdruck gab es nicht, vielmehr wurde Alenka motiviert, ihre Talente zu entdecken. Klingt eigentlich ganz modern. Und tatsächlich sind Waldorfschulen längst nicht mehr nur Horte für Kinder aus der linksalternativen Szene. Heute schicken selbst Eltern, von denen man es nicht erwarten würde, ihren Nachwuchs hierher – von WU-Rektor Christoph Badelt bis zum ehemals konservativen Aushängeschild der ÖVP, Andreas Khol.

Auch das Regelschulwesen scheint zunehmend Gefallen an vielen Konzepten zu finden, die in Waldorfschulen längst die Regel sind. So wird die Gesamtschule vielerorts als eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erhöhte Chancengleichheit in unserem Schulsystem bezeichnet. Die Sinnhaftigkeit des Sitzenbleibens wird angezweifelt, verbale Beurteilungen werden – zumindest in den ersten Schuljahren – zunehmend forciert. „Wenn ich die Bildungsdebatte verfolge und PISA-Sieger wie Finnland beobachte, dann habe ich eine Assoziation: Rudolf-Steiner-Schule“, meint Nina Lang. Auch sie ist Absolventin der Waldorfschule. Den oft geäußerten Vorwurf, dass Waldorfschulen nicht gut auf die Arbeitswelt vorbereiten, findet sie „lächerlich“. Sie selbst, sagt sie, habe stets von ihrer Ausbildung profitiert. Teamfähiger und selbstbewusster sei sie als viele andere Leute.


Keine Waldorf-Uni.
Doch bei all der Euphorie: Den Weg außerhalb der geschützten Werkstätte zu gehen ist nicht immer leicht. Denn nach Waldorf-Kindergarten und Waldorf-Schule wartet auf einmal die Welt draußen. „Waldorf-Universität“ gibt es nicht. Und das sorgt gelegentlich schon für Probleme.

Mit anderen Studenten zu lernen, das ist für Alenka Schmidbauer zum Beispiel unmöglich. „Ich kann mit niemandem lernen, der nur stur auswendig lernt und mir die Frage nach dem Warum nicht beantworten kann.“ Da allein zu lernen – nicht nur zu pauken, sondern alles zu hinterfragen – Zeit braucht, lernt Schmidbauer oft doch einen ganzen Monat länger für eine Prüfung als ihre Studienkollegen.

Doch auch schon während der Schulzeit gibt es gelegentlich Schwierigkeiten. So geistern durch die Medien immer wieder Berichte von Schülern, die nach zwei Jahren Schulbildung noch nicht lesen können, und enttäuschten Eltern, die ihre Kinder aus der Waldorfschule nehmen. Bei so viel Individualität und Spiritualität müsse die Vermittlung von Faktenwissen zu kurz kommen, so der Vorwurf.

Tatsächlich sieht der Alltag der Waldorfschüler etwas anders aus. Fächer wie Eurythmie – die Darstellung geistiger Inhalte durch Tanz – und Gartenbau gehören dazu. Auch in den Naturwissenschaften steht das Selbsterforschen und praktische Arbeiten im Vordergrund. Stures Pauken gibt es nicht.

Doch bei aller Kritik: Allen Vermutungen zum Trotz zeigten die PISA-Sonderauswertungen der Waldorfschulen, dass sie durchaus mit den Leistungen der Regelschule mithalten können – und teilweise sogar besser sind. Die Waldorf-Sonderauswertung zu PISA 2009 ist noch in Arbeit. Jene aus 2006 – in der 153 Waldorfschüler getestet wurden – stellt klar, dass sie in Lesen und Mathematik ähnlich durchschnittliche Leistungen wie die Regelschüler erbringen. Und im Bereich Naturwissenschaften – Überraschung! – liegen sie sogar deutlich über dem Österreich-Schnitt. Wie lässt sich das erklären?

Zu einem Teil liegt das an den Eltern. Das bildungsorientierte Milieu, aus dem die meisten Waldorfschüler stammen, hebt das Niveau: „Es ist eine Schule, in der sich ein bildungsorientiertes Milieu reproduziert“, sagt der Mainzer Bildungsexperte Heiner Ullrich, der die Waldorfschulen zu einem seiner Spezialgebiete machte, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Waldorfeltern würden Bildung einen hohen Stellenwert beimessen, die Kinder auch außerhalb des Unterrichts fördern. Außerdem setzt nicht zuletzt das Schulgeld eine gewisse Kaufkraft voraus. „,Man könnte sagen, mit diesem Hintergrund ist es keine Kunst, so gut zu sein“, so Ullrich. Wie sich Waldorfschulen entwickeln würden, wenn es keine ausgesuchte Schülerklientel gäbe, bleibt vorerst unbeantwortet. Schlicht und einfach, weil es diesen Fall nicht gibt.


Esoterische Prägung. Gerade in Zeiten, in denen sich die staatlichen Schulen Kritik ausgesetzt sehen, wird Reformpädagogik immer beliebter. Viele Eltern erhoffen sich gerade in alternativen Schulmodellen bessere Chancen für ihre Kinder. „Die Waldorfschule sieht aus wie eine reformpädagogische Idealschule“, meint Ullrich. „Der Pferdefuß ist, dass es eine Schule mit einer sehr starken weltanschaulichen Prägung ist.“ Viele Eltern würden vergessen, dass die Steiner-Schule nicht ohne Anthroposophie – die spirituelle Weltanschauung ihres Gründers Rudolf Steiner – gesehen werden kann.

Ein Schulfach Anthroposophie gibt es allerdings nicht. Muss es auch gar nicht, so der Experte. Die weltanschauliche Prägung komme einem eher indirekt entgegen. Das Schulleben und die Unterrichtsinhalte würden dadurch beeinflusst. Heftige Kritik an Steiner wurde auch wegen seiner antisemitischen und rassistischen Äußerungen geübt. Und auch das ziehe sich immer wieder durch den Unterricht. Mehrfach sei im Geschichtsunterricht einzelner Waldorfschulen die Rede von Ariern gewesen. Und manche Lehrer, so erzählt Experte Ullrich, hätten über Atlantis und die geistigen Kräfte gesprochen, die im Inneren des Körpers wirkten. Esoterischer Unfug, wie Kritiker meinen. „Wenn die Lehrer Steiner-Hardliner sind, kommen manchmal Dinge in den Unterricht, die man besser in der Anthroposophie gelassen hätte“, meint Waldorf-Forscher Ullrich. Die Regel sei das nicht, ausschließen könne man es aber ebenso wenig.

Ein großes Manko des Waldorf-Systems liegt darin, dass die Schulen keiner unabhängigen Kontrolle unterliegen. Was gelehrt wird, hängt ausschließlich vom Lehrer ab. Denn Schulbücher gibt es nicht. Die Schüler schreiben auf, was die Lehrperson vermittelt. Lehrt ein Pädagoge etwa die Reinkarnation, dann kann das von außen kaum verhindert werden.

Julia Salcher, Nina Lang und Alenka Schmidbauer können all dieser Kritik nichts abgewinnen. Sie hatten eine schöne Schulzeit. Und sie sind erfolgreich in Studium und Beruf, fühlen sich auf das Leben danach offensichtlich nicht so schlecht vorbereitet. Über den Vorwurf, dass man in den Steiner-Schulen zu weltfremden Kreativen gemacht werde, können sie nur lachen.

Wirft man einen Blick auf prominente Absolventen von Waldorfschulen, stößt man immerhin auf viele bekannte Gesichter: Schauspieler, Filmemacher, Autoren... Der Output an Kreativen, die in der Schule den entscheidenden Anstoß für ihre Karriere bekommen haben, scheint zumindest recht hoch zu sein. Dass die Waldorfschulen allerdings fast ausschließlich Kreative produzieren, ist auch wieder eine Mär. Laut einer Studie des Düsseldorfer Erziehungswissenschaftlers Heiner Barz werden die Absolventen zumeist Ingenieure, Ärzte, Apotheker und Lehrer. Wobei es bei den Lehrern einen interessanten Nebenaspekt zu erwähnen gibt: So gut wie nie gehen sie an die Waldorfschule zurück.

16 Standorte
In Österreich gibt es 16 Waldorfschulen mit rund 2600 Schülern, drei davon müssen noch jährlich um das Öffentlichkeitsrecht ansuchen. Waldorfschulen sind staatlich anerkannt, ihre Zeugnisse sind jenen staatlicher Schulen gleichwertig.

Keine Noten, kein Sitzenbleiben
Kinder werden von der ersten bis zur zwölften Schulstufe unterrichtet. Noten gibt es keine, dafür ausführliche schriftliche Beurteilungen in allen Fächern und eine Gesamteinschätzung der Persönlichkeitsentwicklung. Sitzenbleiben ist nicht vorgesehen. Die Schulzeit endet nach zwölf Jahren mit dem Waldorfabschluss. Für die Reifeprüfung muss ein 13. Schuljahr an einer AHS absolviert werden.

Kollegiale Führung
Die Schulen werden von den Lehrern kollegial unter Mithilfe der Eltern verwaltet, Schulerhalter ist in der Regel ein aus Eltern und Lehrern bestehender Schulverein. Direktor gibt es an Waldorfschulen keinen. Pädagogische Fragen entscheiden die Lehrer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2011)

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