Sitzenbleiben: Abschied von der "Ehrenrunde"

Sitzenbleiben Abschied Ehrenrunde
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Das Ende des Sitzenbleibens ist mehr als nur eine Schulreform – es bedeutet auch das Ende eines lieb gewonnenen Stücks Kulturguts. Die Gründe für die Skepsis in der Bevölkerung sind vielschichtig.

Bei den Laudas bleibt keiner sitzen“, haben ihm seine Eltern damals gedroht. Niki Lauda passierte es trotzdem. Und zwar gleich zwei Mal. Seinem späteren Erfolg taten die zwei „verlorenen Jahre“ am Wiener BG 19 und der darauf folgende, mäßig erfolgreiche Besuch einer Maturaschule keinen Abbruch („Ich hab mich immer nur für Autos interessiert“) – in der wohlhabenden Wiener Industriellenfamilie sorgten die schulischen Probleme des späteren Formel-1–Weltmeisters und Fluglinienbesitzers dennoch für „riesigen Ärger“.

Der mangelnde Schulerfolg ist auch die vermutlich einzige Gemeinsamkeit von Lauda und einem der größten Allroundkünstler des Landes: Für André Heller war die gesamte Schulzeit ein einziges Sitzenbleiben und Schulewechseln. Ein Trauma hat er nicht davongetragen – ganz im Gegenteil. „Jede Minute, in der ich Schule schwänzte, war ein Gewinn. Die Zeit, die ich etwa im Wiener Uhren- oder im Bestattungsmuseum verbracht habe, war wertvoller für mich als jeder Unterricht mit Lehrplan, dessen Inhalte mir nichts brachten.“ Durch seine Klassenwiederholungen und Schulwechsel brachte er es übrigens auf unzählige Mitschüler. „Allerdings verstärkte das nur mein Gefühl der Isolation“, so Heller. Etwas, das er heute so nicht mehr kennt.

Die beiden reihen sich jedenfalls in eine lange Liste an bekannten Persönlichkeiten ein, die in ihrem späteren Leben, nicht aber in der Schulzeit durch Leistung glänzten. Der Schriftsteller Franz Grillparzer blieb nicht nur sitzen, sondern soll sich sogar Prüfungsfragen erschlichen haben. Auch Hermann Hesse und Winston Churchill („die ödeste und unfruchtbarste Zeit meines Lebens“) mussten eine Klasse wiederholen. Wie ihnen ergeht es vielen: Alleine in Österreich sind jährlich rund 40.000 Schüler nicht aufstiegsberechtigt; zwei Drittel davon wiederholen die Klasse.


Kampf der Kuschelpädagogik. Geht es nach der Bundesregierung, soll damit bald Schluss sein. Das Sitzenbleiben wird in der AHS-Oberstufe und in Berufsbildenden höheren Schulen de facto abgeschafft, ein (wie in vielen Ländern übliches) Kurssystem wird eingerichtet. Wer in einem Fach die erforderliche Leistung nicht erbringt, muss diese (etwa in Form von Förderstunden) nachholen. In den anderen Gegenständen bleibt er im Klassenverband.

Allein: In der Bevölkerung regt sich Widerstand. Die Abschaffung des Sitzenbleibens ist mehr als eine Schulreform – sie bedeutet für viele das Ende eines Stück Kulturguts, einer fast lieb gewonnenen Tradition in der heimischen Bildungslandschaft, die bis heute so sehr an die Zeiten Maria Theresias erinnert. Das beweist auch die Emotionalität, mit der die undifferenzierte Debatte über das Kurssystem derzeit geführt wird. Von Leistungsverweigerern ist die Rede, und von Kuschelpädagogik. Mit Genuss präsentiert der Boulevard Umfragen, in denen die Mehrheit der Österreicher die Beibehaltung fordert. Die Zahlen kommen nicht von ungefähr. Auch seriöse Studien aus Deutschland wiesen oft nur ein Drittel der Bevölkerung als Befürworter der Abschaffung aus. Und das, obwohl mittlerweile auch unter Bildungswissenschaftlern als belegt gilt, dass die „Ehrenrunde“ mehr schadet als hilft. Rund ein Drittel der oft zusätzlich demotivierten Sitzenbleiber schließt das Folgejahr negativ ab. Aus ökonomischer Sicht war das Sitzenbleiben ohnedies immer umstritten. Kritiker gehen von jährlichen Kosten in der Höhe von 300.000 Euro aus – wirtschaftliche Folgeschäden, die durch den späteren Einstieg in den Beruf entstehen, nicht eingerechnet.


Wer schlecht ist, der wird bestraft. Die Gründe für die Skepsis in der Bevölkerung sind indes vielschichtig. Sie bloß mit der Verweigerung von Innovationen zu erklären greift zu kurz. Vielmehr ist sie auch Ausdruck eines Konkurrenzdenkens, sagt die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Tina Hascher, Professorin an der Uni Salzburg. „Wenn ich für die Schule lernen muss und andere das nicht tun, dann sollen sie sitzenbleiben“ – dieser Gedanke sei bei vielen verankert. Das Sitzenbleiben passe zu jenen „Leistungsnormen, die wir verinnerlicht haben“. Wer eine Klasse wiederholen muss, erlebe nicht nur einen „massiven Eingriff in seine soziale Lebenswelt“. Ihm werde auch ein tiefes Gefühl von Versagen vermittelt. Er sei „gebrandmarkt“, sagt Hascher. Oder, anders formuliert: Wer zu schlecht ist, wird vom Leben bestraft – so fasst Jugendforscher Philipp Ikrath das Motto zusammen, nach dem bereits Jugendliche leben würden.

Dass sich übrigens sogar jene, die selbst sitzengeblieben sind, mehrheitlich gegen eine Abschaffung aussprechen, habe mit einem problembehafteten Umgang mit dem eigenen Scheitern zu tun, sagt Hascher. „Viele Betroffene behaupten Jahre später, dass ihnen das Sitzenbleiben gar nicht geschadet, sondern sogar positive Auswirkungen gehabt habe.“ Der Wahrheit entspreche das nicht: „Der Versuch, die Biografie zu schönen, dient vor allem der Erhaltung des Selbstkonzepts – und schützt das eigene Selbstwertgefühl.“

Überwinden – da sind sich die Wissenschaftler einig – könne man die Ressentiments gegen die Reform übrigens nicht durch Argumente. Sondern, indem man sie „einfach durchführt“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2011)

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