Kampf um die Grenzen der Meinungsfreiheit

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Studentenaktivisten an zahlreichen US-Unis haben durchgesetzt, dass für sie unangenehme Themen und Redner zensiert werden. Dagegen formiert sich Widerstand.

Der Brief von John Ellison, dem für Studentenbelange zuständigen Dekan der University of Chicago, an die heurigen Erstsemestrigen sorgte in der amerikanischen Hochschulwelt für Furore. „Unsere Verpflichtung zu akademischer Freiheit bedeutet, das wir keine sogenannten Trigger Warnings unterstützen, dass wir eingeladene Sprecher nicht ausladen, bloß weil ihre Themen sich als kontroversiell herausstellen mögen, und wir dulden die Schaffung intellektueller Safe Spaces nicht, auf die sich Personen vor Ideen und Sichtweisen zurückziehen können, die ihren eigenen widersprechen“, legte Ellison die Linie der renommierten Bildungseinrichtung dar.

Trigger Warnings, Safe Spaces: Wer heute einen amerikanischen Hochschulcampus betritt, zumal einen der elitären Universitäten der Ivy League, kann sich diesen beiden Begriffe kaum entziehen. Mit Trigger Warning ist die Warnung vor der Auslösung traumatischer Erinnerungen durch einen Lehrinhalt gemeint. Laut einer (allerdings nicht wissenschaftlichen) Befragung Hunderter Hochschullehrer durch den Radiosender NPR gibt jeder zweite von ihnen solche Trigger Warnings, bevor neue Texte an die Studenten verteilt werden.
Das nimmt bisweilen bedenkliche Ausmaße an. Im April vorigen Jahres beschwerten sich zum Beispiel einige Studenten der Literaturwissenschaften an der Columbia University in New York darüber, dass sie Ovids „Metamorphosen“ ohne Vorwarnung hatten lesen müssen. Die beinhalten auch die Mythen von Persephone und Daphne, denen Zeus beziehungsweise Apollo auf bekannt wüste Art nachstellten. Eine Studentin, die Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, sei durch das Lesen dieses Textes so traumatisiert worden, dass sie dem weiteren Unterricht nicht habe folgen können.

Kurse, in denen bestimmte Inhalte tabu sind. Safe Spaces wiederum waren ursprünglich physische Schutzräume, in denen sich Homosexuelle und andere Minderheiten frei von der Gefahr feindseliger Übergriffe treffen konnten. An Amerikas Hochschulen haben sich jedoch im Lauf der Jahre auch jene intellektuellen Safe Spaces gebildet, die Dekan Ellison in Chicago nicht mehr sehen möchte: Orte beziehungsweise Lehrveranstaltungen, in denen bestimmte Inhalte oder Redner tabu sind.

Die Befürworter von Safe Spaces und Trigger Warnings argumentieren, dass diese Methoden es Minderheiten erst ermöglichen, in der akademischen Debatte ihre Stimmen zu erheben. Ihre Gegner warnen hingegen davor, dass ein freier Austausch von Ideen irgendwann unmöglich wird, weil sich stets eine neue Minderheit finden lässt, die sich von diesem oder jenem Inhalt diskriminiert oder gar traumatisiert fühlt.

„Die Sprache der Traumatisierung ist an den Hochschulen dominant geworden – mit problematischen Auswirkungen auf das Leben auf dem Campus“, sagt Jonathan Zimmerman, Professor für Bildungsgeschichte an der New York University, im Gespräch mit „UniLive“. „Wir sehen eine Psychologisierung der Politik an den Hochschulen, das heißt, die Effekte von Politik werden in psychologischen Begriffen eingefasst.“ Die Gefahr für die Meinungsfreiheit liege darin, dass so eine auf Seelenleid und Trauma aufbauende Metaphorik keine Diskussion erlaubt.
„Wenn man in einer Diskussion an dem Punkt anlangt, wo man die Gefühle seines Gegenübers infrage stellt, wird man selbst zum Teil des Problems“, erklärt Zimmerman, der diese Dynamiken in seinem neuen Buch „Campus Politics“ (Oxford University Press) untersucht. Wer angibt, von der Lektüre Ovids seelisch traumatisiert zu werden, verunmöglicht jegliche Erörterung dieser Literatur – und kann zudem seine Gegner damit in die Schranken weisen, dass sie in seiner seelischen Wunde bohren. Ein wirksameres Totschlagargument gibt es kaum.

Dozenten und Studenten gegen Erpressung. Vielen Hochschullehrern und Studenten ist diese geistige Erpressungstaktik zuwider. Und auch Präsident Barack Obama hat große Bedenken. „Wenn Ihr anderer Meinung seid als jemand, dann bringt ihn herein und stellt ihm harte Fragen. Bringt ihn dazu, seine Haltung zu verteidigen“, mahnte Obama die Studenten der Rutgers State University in New Jersey heuer im Mai. „Wenn jemand eine schlechte oder beleidigende Idee hat, dann widerlegt sie. Debattiert sie. Glaubt nicht daran, dass Ihr Eure Ohren verschließen müsst, weil Ihr zu schwach seid und jemand Euch verletzen könnte. Vielleicht lernt Ihr etwas und stellt fest, dass Ihr doch nicht alles wisst. Und Ihr mögt nicht nur ein neues Verständnis für Euren Gegner gewinnen, sondern vielleicht auch dafür, was Ihr selbst glaubt. In beiden Fällen gewinnt Ihr etwas.“

Jonathan Zimmerman lehnt Trigger Warnings und intellektuelle Safe Spaces ab, doch den Brief von Dekan Ellison hat er mit gemischten Gefühlen gelesen. „Einerseits war es eine Überraschung, dass die Universität sich so offen gegen diese Phänomene ausspricht. Aber andererseits war ich nicht sehr erfreut, denn die Universitätsverwaltung hat diesen Brief verschickt, ohne die Fakultät zuvor zu befragen. Es gab keine Information, keine Diskussion.“
A. Holly Shissler, eine Assistenzprofessorin für Nahostgeschichte, tat gegenüber der Fachpublikation „Inside Higher Ed“ ihren Unmut kund: „Das betrifft grundlegend unsere Rolle als Lehrer und Mentoren. Ich war verstört darüber, dass so eine öffentliche Aussage über die Lehrer und das intellektuelle Leben an der Universität getroffen wird, ohne die tatsächlichen Ansichten und Erfahrungen der Fakultät in Betracht zu ziehen.“
Zimmerman betont, dass es wichtig ist, Studenten aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen an die Hochschulen zu bringen. Doch gleichzeitig warnt er: „Universitäten sollten den Studenten keine Ansichten und Gedanken vorzuschreiben versuchen.“

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