Aus der Perspektive eines Lehrenden: "Man sieht alles"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ein Hörsaal ist immer auch eine Bühne, die genauso in die andere Richtung funktioniert. Man sieht als Vortragender sehr genau, was die Studierenden gerade treiben.

Hörsäle sind wie ein Theater aufgebaut. Auf der einen Seite die Bühne, auf der jemand seinen Text aufsagt. Auf der anderen das Publikum, das ergriffen lauscht. Gut, natürlich ist das eine alte Vorstellung, die mit der Realität einer Lehrveranstaltung oft nicht mehr viel zu tun hat. Immerhin geht es auch um das gemeinsame Erarbeiten von Dingen. Einwegkommunikation in Form eines Frontalvortrags passt da nicht mehr so richtig. Und doch stellt sich oft ein Bühnenerlebnis ein. Für die Teilnehmer, die ihre Blicke auf eine Person richten, die sie für die nächsten eineinhalb Stunden beschäftigen muss. Oder umgekehrt für den Lehrveranstaltungsleiter, der auch einiges zu sehen bekommt, Das Plenum ist nicht abgedunkelt, wir sind ja nicht im Theater.

Es beginnt regelmäßig mit der Ouvertüre, dem Eintreffen der Kolleginnen und Kollegen. Und dem immer ähnlich ablaufenden Ritual, dass die Belegung der Sitze indirekt proportional zur Entfernung vom Leiter startet. In Hörsälen kann so ein Burggrabeneffekt entstehen und man fragt sich, ob man sein Deo wechseln sollte. In einigen Räumen gibt es andere Konstellationen. Sesselkreise, zum Beispiel. Welche Sitze am längsten frei bleiben? Die Antwort dürfen die Kollegen geben, die mit zerknirschtem Gesichtsausdruck und Verspätung in die Lehrveranstaltung starten, sie haben bei der Reise nach Jerusalem den Hauptpreis gewonnen. Abgesehen davon, die Platzbelegung bleibt nach der ersten Einheit in der Regel bis zum Semesterende gleich. So wie im Bus auf Schullandwoche. Warum auch immer.

Im Lauf der Einheit dominiert dann das Suchen nach Augen. Nach den wachen, mit denen man Blickkontakt aufnehmen kann. Nach den müden, die montags um acht Uhr morgens verständlich sind. Und nach den geschlossenen, etwa bei der Kollegin, die ihren Kopf zwischen zwei Jacken an der Rückwand gebettet hat. Es heißt Anwesenheitspflicht, nicht Aufmerksamkeitspflicht. Nur, dass so wie beim Deo wieder die Frage auftaucht, liegt es an mir? So wie auch bei jeder anderen Regung der Studierenden. Und ja, man sieht alles. Jedes flüsternde Hinüberbeugen zur Nachbarin (Keine Angst, das "Sagen Sie es doch laut, damit alle daran teilhaben können" ist voll 20. Jahrhundert, das macht heute keiner mehr!), jeden Biss in das Ströck-Weckerl und jeden Griff zum Handy. Und ja, man fragt sich, was der Kollege da gerade tippt, ein "Mir is fad" auf WhatsApp oder einen Kommentar zur Übung auf Twitter. Vielleicht ist es sogar eine inhaltliche Anmerkung und zum Studieren gehört ja auch der virtuelle Raum.

Immerhin, dass ein Kollege während der Einheit auf dem Laptop einen Egoshooter startet, kommt zum Glück nicht allzu häufig vor. Don t shoot me, I'm only the Lehrveranstaltungsleiter!

ZUM AUTOR

Erich Kocina ist stellvertretender Chronik-Chef in der "Presse" und leitet seit 2010 im Sommersemester eine Übung zu Printjournalismus am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien.

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