Fields-Medaille: Ein Mathematik-Weltmeister aus Tirol

(c) University of Warwick
  • Drucken

Martin Hairer, Professor an der englischen University of Warwick, ist der erste Österreicher, der die angesehenste Auszeichnung für Mathematiker bekommt. Er erforscht ziemlich ungemütliche Differenzialgleichungen.

Martin Hairer hat – sozusagen in seiner Freizeit – eine Musiksoftware namens „Amadeus“ geschrieben. Und seine Frau Xue-Mei Li, ebenfalls Mathematikerin, schreibt in ihrem „Bread Blog“ auch über den Apfelstrudel („one of the magic inventions of the Austrians“) von Hairers Großmutter . . .
Doch sonst finden sich kaum Österreich-Bezüge in Leben und Forschung des ersten Österreichers, der mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wird, die als mathematisches Pendant zu den Nobelpreisen gilt. „Warum sollte er?“, antwortete er auch trocken auf die Frage der österreichischen Presseagentur APA, warum ihn sein Karriereweg bisher nie nach Österreich geführt habe. An der in Mathematik und Ökonomie hoch angesehenen University of Warwick (ein englisches Städtchen am Fluss Avon), wo er seit 2010 Full Professor ist, schätze er die „nette und wissenschaftlich befruchtende Atmosphäre“, vor allem im Gemeinschaftsraum beim Tee.

Geboren wurde Martin Hairer 1975 in Genf, wo sein Vater, der aus Tirol (Nauders) gebürtige Ernst Hairer, Mathematiker an der Universität war. Was er denn dort den ganzen Tag mache, soll ihn der kleine Martin einst gefragt haben. „Differenzialgleichungen lösen“ war die schlichte Antwort. Was den Buben rätseln ließ: Was ist denn das? Heute weiß er es gut. Er befasst sich mit stochastischen partiellen Differenzialgleichungen.

In allen Disziplinen der Physik

Was kann man sich darunter vorstellen? Nun, wenn in einer Gleichung nicht nur eine Funktion y vorkommt, sondern auch deren Ableitung y' – also z. B. deren Veränderung mit der Zeit (dy/dt) oder entlang eines Wegs (dy/dx) –, nennt man sie Differenzialgleichung. Wenn darin mehrere Ableitungen nach verschiedenen Variablen vorkommen – also z. B. nach der Zeit und nach einer Ortskoordinate –, dann nennt man sie partielle Differenzialgleichung. In so ziemlich allen Disziplinen der Physik – von der klassischen Mechanik über Thermodynamik und Theorie des Elektromagnetismus bis zur Quantentheorie – spielen partielle Differenzialgleichungen eine große Rolle.

Um eine Funktion zu differenzieren (abzuleiten), muss sie differenzierbar sein, salopp gesprochen: Sie darf keine Sprünge machen und keine Ecken haben. Genau das ist in stochastischen Differenzialgleichungen nicht garantiert, denn in diesen spielt der Zufall eine Rolle. Der Funktionswert wird sozusagen immer wieder aufs Neue gewürfelt, das heißt, die Funktion verläuft gar nicht glatt. Im Prinzip behandeln die Mathematiker eine solche Differenzialgleichung, indem sie aus ihr eine Integralgleichung machen (Integrieren ist ja gewissermaßen die inverse Operation zum Differenzieren), und mit dieser geht's dann leichter.

Hairer hat sich vor allem eine besondere Art von stochastischen partiellen Differenzialgleichungen angeschaut: die Kardar-Parisi-Zhang-Gleichungen (benannt nach drei Physikern), in die eine Zufallsfunktion (ein weißes Rauschen) eingeht. Mit ihnen kann man z. B. beschreiben, wie ein Blatt Papier verbrennt: Dass die Flamme sich unterschiedlich schnell durch das Papier frisst, hängt von zufälligen Unregelmäßigkeiten in der Struktur des Papiers ab.

Mit dem „Herrn der Ringe“ verglichen

Hairer hat, wie er der APA erklärt hat, in solchen Gleichungen für bestimmte Ausdrücke, „die klassisch keinen Sinn machen“, eine Theorie entwickelt, die ihnen „systematisch Sinn gibt“. Damit werden die Gleichungen „auf soliden mathematischen Grund gestellt“ und für spezielle Fälle sogar lösbar.

Die Arbeit, die das beschreibt, ist eigentlich noch gar nicht erschienen (in den Inventiones mathematicae), aber seit März 2013 im Internet erhältlich (arXiv:1303.5113). Kollegen sind begeistert von ihr, einer hat sie mit dem „Herrn der Ringe“ verglichen: Wie diese Romantrilogie habe sie „eine ganz neue Welt erschaffen“. Die 180 Seiten starke Arbeit heißt „A Theory of Regularity Structures“, in ihr wird auch ein konkretes Beispiel geschildert: die Beschreibung, wie ein Kristall bei der kritischen Temperatur (Curie-Temperatur) ferromagnetisch wird.

Denn, wie gesagt, partielle Differenzialgleichungen sind für die Physik sehr wichtig. Ein Mathematiker wie Hairer sieht das umgekehrt: Die Physik sei „eine sehr gute Quelle für mathematische Probleme“, sagt er. Ihn interessiere freilich primär die Mathematik, technologische Anwendungen habe er nicht im Sinn. So habe auch seine Software-Entwicklung nichts mit seiner Mathematik zu tun. Eher mit seiner Liebe zu Popmusik, etwa von Pink Floyd.

Der von seinen Kollegen als bescheiden, ruhig und humorvoll geschätzte Hairer hat an der Uni Genf Mathematik und Physik studiert. Für Mathematik habe er sich entschieden, sagt er, weil diese so schön endgültig ist. „Wenn ich ein mathematisches Theorem beweise, dann bleibt es wahr. Eine physikalische Theorie dagegen kann nach zehn Jahren schon komplett falsch sein. Das ist es, was ich an der Mathematik mag: die Ewigkeit.“

Fields-Medaille

Seit 1936 vergibt die Internationale Mathematikerunion alle vier Jahre an zwei bis vier Mathematiker, die jünger als 40 sind, je eine Fields-Medaille. Gestiftet wurde dieser Preis 1932 vom Mathematiker John C. Fields, er ist heute mit 15.000 kanadischen Dollar (circa 10.300 Euro) dotiert. Er gilt als wichtigste Auszeichnung für Mathematiker und wird oft mit dem Nobelpreis verglichen, erst seit 2002 hat er mit dem jährlich vergebenen Abelpreis einen Konkurrenten. Die Medaille trägt u. a. den Spruch „Transire suum pectus mundoque potiri“ („Die eigenen Grenzen überschreiten und sich der Welt bemächtigen“) und ein Bild des Archimedes. 2014 erhalten neben Hairer eine Fields-Medaille: Maryam Mirzakhani (Iran, siehe unten), Manjul Bhargava (Kanada), Artur Avila (Brasilien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Hochschule

Die erste Frau, die eine Fields-Medaille bekommt, ist Iranerin

Nichteuklidische Geometrie: Die 37-jährige Maryam Mirzakhani fiel bereits als Teenager in Teheran mit ihrer hohen Begabung für Mathematik auf.
Meinung Bildung

Damit war nicht zu rechnen

„Mathematiker rechnen nicht.“ Dieses trockene Bonmot servierte Martin Hairer, der erste österreichische Träger der Fields-Medaille, gleich nach Bekanntgabe der Preises.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.