Moritz Schlick: Eifersuchtsmord an der Universität

Philosophenstiege
Philosophenstiege(c) Teresa Zötl/detailsinn.at
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Der weltberühmte Philosoph fiel 1936 einem Revolverattentat zum Opfer. Der Täter war ein vermeintlicher Rivale – später wurde daraus antisemitische Propaganda.

Am 22.Juni 1936 war der stellungslose Privatgelehrte Doktor Johann Nelböck (33) schon gegen acht Uhr morgens in der Wiener Universität. Im Sakko trug er einen Revolver. Und jetzt wartete er nervös auf seinen eingebildeten Feind, den berühmten Philosophen Moritz Schlick, auf der rechten Stiege im Hauptgebäude.

Schlick (54) kam mit der Straßenbahnlinie D, hatte auf der Fahrt noch ein kurzes Gespräch mit einer Studentin, verabschiedete sich und betrat das Gebäude. Nelböck entsicherte die Waffe und streckte Schlick auf der Stiege mit mehreren Schüssen nieder. „Da, du verfluchter Hund!“ Drei Schüsse waren tödlich. Dann wartete der Mörder teilnahmslos neben der Leiche auf seine Festnahme. Eigentlich hatte er Selbstmord begehen wollen, aber davon war nun keine Rede mehr. Vor der Polizei gab er zu Protokoll, dass er für seine Tat einstehe. Schlick habe ihn beruflich „nicht aufkommen“ lassen. Jetzt sei alles vorüber, und alles weitere sei ihm nun egal.

Der Mord auf der „Philosophenstiege“ war Stadtgespräch von Wien. Eine Sensation sondergleichen. Und bald kursierten die ersten Vermutungen: Ein Deutschnationaler habe „den Juden Schlick“ aus ideologischen Gründen beseitigt.

Alles falsch, sagt der Mathematiker Karl Sigmund, der diese Episode auch in einer aktuellen Ausstellung an der Universität darstellt. Schlick sei zwar sehr judenfreundlich eingestellt, aber zeitlebens evangelisch gewesen – und Nelböck habe aus rein persönlicher Rache gehandelt.

Was steckte also dahinter? Eifersucht war's. Nelböck, aus bettelarmem Haus in Oberösterreich stammend, studierte bei Schlick und verliebte sich erfolglos in eine Mitstudentin namens Silvia Borowitzka aus einer Hietzinger Bürgerfamilie. Als das Mädchen ihrem Verehrer einmal sagte, Schlick mache ihr Avancen, nahm die verhängnisvolle Affäre ihren Lauf.

Kaum hatte Nelböck promoviert, begann er auf dem Gang vor den Hörsälen, Schlick lauthals anzuklagen: Schlick führe „unsittliche Spielchen“ mit der Studentin auf. Dabei fuchtelte er mit einer Pistole herum: Er werde Schlick erschießen und Selbstmord begehen. Man erstattete Anzeige, Nelböck wurde verhaftet. Die Pistole stammte von Silvia Borowitzka. Sie hatte die Waffe dem Vater entwendet. Beide kamen in die Psychiatrie.

Während der Borowitzka attestiert wurde, „ein nervöses, charakterologisch etwas absonderliches Mädchen“ zu sein, wurde Nelböck als „schizoider Psychopath“ eingestuft, er wanderte in die Anstalt Am Steinhof, wo er mehrere Monate blieb. Seine platonische Freundin dissertierte indes („Über das Angenehme und das Schöne“) und kam in der weiteren Geschichte nicht mehr vor.

Schlick wird mehrfach bedroht

Nelböck war ein musterhafter Insasse und verschlang philosophische Wälzer. Er ward entlassen und bereitete sich auf das Lehramt vor. Doch zugleich nahm er die Verfolgung Schlicks wieder auf. Mit ständigen Telefonanrufen quälte er sein Opfer. Schlicks Tätigkeit im sogenannten Wiener Kreis litt darunter. Diesem informellen Zirkel von Mathematikern und Philosophen gehörten Zelebritäten wie Karl Menger und Kurt Gödel an. Auch Ludwig Wittgenstein und Karl Popper standen in engem Kontakt, wenngleich sie nie an den Treffen der Freunde teilnahmen, die Schlick um sich geschart hatte.

Es war ein Albtraum. Kaum war Schlick von einem kalifornischen Gastsemester in Berkeley heimgekehrt sah er, der Freund Einsteins und Wittgensteins, sich von einem Psychopathen „mit homiziden Neigungen“ verfolgt. Nelböck kam wieder in die Psychiatrie. Damit war jede Aussicht auf eine Anstellung in einer Schule zunichtegemacht.

Aber ein verschmähter Liebhaber gibt nicht so leicht auf. In einem engen Kabinett gab er Nachhilfestunden und bereitete sich auf Philosophieprüfungen vor. Und er verfasste Buchrezensionen für die christlichsoziale „Reichspost“. Über Albert Einsteins Buch „Mein Weltbild“ gab er folgendes Urteil ab: Einsteins Grundmangel sei „das Fehlen tieferen Eindringens in die Probleme streng wissenschaftlicher Methodik und Begründung.“

Der Polizeischutz, den Moritz Schlick einige Zeit genoss, war inzwischen wieder aufgehoben. Da es bei wilden Drohungen blieb, konnte (wollte) die Kriminalpolizei nichts tun. Karl Menger erinnerte sich später an ein Gespräch mit dem Verfolgten: „Nie werde ich das klägliche Lächeln vergessen, mit dem Schlick hinzufügte: ,Ich fürchte, dass die Polizei langsam glaubt, ich sei der Verrückte.‘“

Im Frühjahr schien alles irgendwie gut zu werden, Nelböck durfte hoffen, als Lehrer am Volksheim Ottakring aufgenommen zu werden. Einen Kurs über Positivismus sollte er halten. Dann freilich sagte die Volkshochschule ab, weil sie von den Psychiatrieaufenthalten erfahren hatte.

Jetzt wird Schluss gemacht

Damit war für Nelböck sonnenklar: Da musste Schlick interveniert haben. Jetzt wollte er Schluss machen. Die Pistole hatte er schon längere Zeit. In einem freundlicheren Moment hatte er die Munition in die Donau geworfen, jetzt kaufte er wieder zehn Patronen. In der Nacht vor dem Mord wäre er unablässig auf und ab gegangen, sagte seine Zimmerwirtin aus.

Wegen Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt. Aber nach 18 Monaten kam er wieder frei. Unter merkwürdigen Umständen.

Inzwischen war Österreich nämlich dem Reich Adolf Hitlers einverleibt worden. Und der Reichsjustizminister bekam Post von einem Professor Sauter: Der Mord an Schlick sei aus „politischer und weltanschaulicher Not“ erfolgt. Moritz Schlick sei bekanntermaßen „Exponent des Judentums an der philosophischen Fakultät“ gewesen. Nelböck hingegen „stark von nationalen Motiven und ausgesprochenem Antisemitismus“ erfüllt. Das sei zwar neu, aber unter Schuschnigg habe man darüber nicht sprechen dürfen, daher sei dies auch im Prozess nicht zur Sprache gekommen. Nelböck ging also im November 1938 frei. „Den Strafrest von sieben Jahren, einem Monat und 29 Tagen musste er nicht mehr verbüßen“, rechnet der Mathematiker Karl Sigmund vor.

„Volksfremd, volksschädlich“

Ganz trauten aber selbst die Nazi-Behörden dem Mörder nicht. Dieser bat nämlich, aus dem Strafregister getilgt zu werden, weil er ja schließlich „durch die Beseitigung eines jüdische, volksfremde und volksschädliche Lehren verbreitenden Lehrers dem Nationalsozialismus einen Dienst erwiesen“ habe. Dies lehnte die Kanzlei des „Führers“ ab.

Bemerkenswert an dem Sensationsmord bleiben die divergierenden Nachrufe auf Moritz Schlick. Die junge Hilde Spiel schrieb in der „Neuen Freien Presse“: „Nicht oft wird ein Gelehrter so sehr zum menschlichen Vorbild für seine Schüler...“ Ganz anders die Zeitschrift „Schönere Zukunft“, die den christlichsozialen Ständestaat unterstützte: Nelböck sei schließlich nicht als Psychopath auf die Welt gekommen, sondern er sei dazu erst „unter dem Einfluss der radikal niederreißenden Philosophie, wie sie Dr. Schlick vortrug, geworden...“

„Nur christliche Philosophen!“

Der Autor bleibt unbekannt, er verwendete das Pseudonym Professor Austriacus. Und auch er saß dem Irrglauben auf, Schlick sei Jude gewesen: „Auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universitär im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! – Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage!“

Auf den Irrtum aufmerksam gemacht, zog die Zeitschrift in der nächsten Nummer halb zurück: „Wir haben nur behauptet, dass er ein Judenfreund ist, ja, der Abgott der jüdischen Kreise Wiens war.“

Mit Schlicks Tod zerfiel der Wiener Kreis. Dass die Universität in ihrem Jubiläumsjahr dessen gedenkt, gereicht ihr zur hohen Ehre.

DER AUSSTELLUNGSMACHER

Nächsten Samstag:
Der Brünner Todesmarsch Ende Mai 1945.

Karl Sigmund (69) ist seit 1974 – nach Studien in Manchester, Paris und Jerusalem – ordentlicher Professor an der Wiener Universität. Er befasste sich zunächst mit dynamischen Systemen und ab 1977 mit mathematischen Fragen der Biologie (Ökologie, Populationsgenetik) und chemischen Kinetik. Er entwickelte danach besonders die evolutionäre Spieltheorie, sein Lieblingsgebiet.

Akademie der Wissenschaften. Seit 1999 ist er wirkliches Mitglied der ÖAW. Besonders über das Wiener Genie Kurt Gödel publizierte er gern.

Ausgezeichnet. Schon 2006 haben ihn die Leser der „Presse“ zum Österreicher des Jahres gewählt, er ist Ehrendoktor seiner Universität und hat 2011 die Blaise-Pascal-Medaille in Mathematik erhalten.

Ausstellung. Die Wiener Uni zeigt bis 31.Oktober die Ausstellung „Der Wiener Kreis“, kuratiert von Karl Sigmund und Friedrich Stadler. Eingang bei der linken Rampe. [ Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)

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