Standardisierte Qualitätskriterien fehlen

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Handicap. In Zukunft sollen Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung dort studieren können, wo das Wunschfach angeboten wird. Doch noch schaut der Alltag anders aus, erzählen Betroffene.

Es ist unbestritten: Studieren trotz Behinderung wird leichter. Claudia Rauch und Ivana Veznikova sind gute Beispiele hierfür. Rauch ist blind und studierte Ende der 1980er in Graz Lehramt: „Barrierefreiheit war damals ein Fremdwort!“ Aber auch 20 Jahre später war es nicht viel besser. Ivana Veznikova sitzt im Rollstuhl, sie leidet an Zerebralparese. Als die Wienerin 2001 maturierte, bestand an ihrem Studienwunsch kein Zweifel: „Psychologie! Aber an der Uni Wien waren die Hörsäle mit Rollstuhl nicht zu erreichen.“ Eine Änderung des Studiums kam nicht in Frage, denn „ich möchte nicht mein Leben mangelnder Barrierefreiheit unterwerfen.“ Die Alternative fand sie in der Webster Universität. Dort befanden sich alle Räume in einem Gebäude und waren per Lift erreichbar. Derzeit befindet sie sich in den finalen Zügen ihres Masterstudiums mit Schwerpunkt klinische Psychologie an der – barrierefreien – Sigmund Freud Privatuniversität. „Das moderne Gebäude entspricht den Kriterien, persönlich stört mich aber, dass der barrierefreie Zugang abseits der Haupteingangstreppe ist, und man erst wieder getrennt von anderen zur Uni kommt.“

Auch Claudia Rauch studiert wieder. Sie absolviert ihr Doktorat am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft in Graz – in einem ehemaligen Druckereigebäude. „Die Unübersichtlichkeit ist mein größtes Problem“, sagt die 46-Jährige. „Sich auf der komplexen Homepage und in den Räumlichkeiten zurechtzufinden, ist eine Herausforderung. Es gibt kein Blindenleitsystem, ich bin auf Hilfe Studierender und Professoren angewiesen.“ Lob gibt es für die Unibibliothek. „Alle sind bemüht, die gewünschte Literatur in elektronischer Form zu verfassen.“

Bewusstseinsbildung

Als eine der Haupthürden für Studierende mit Behinderungen sieht Jakob Putz vom Verein Uniability, dass und wie Betroffene vor dem Studium an brauchbare Infos kommen. „Besonders, wenn Studierende das Bundesland studienbedingt wechseln. Für den Bereich außerhalb des Studiums – sprich Assistenz im Alltag, teilweise Hilfsmittel oder Training in Orientierung und Mobilität – sind die Länder zuständig und somit neun unterschiedliche Gesetzesgrundlagen. Da reicht die Palette von Rechtsanspruch auf Leistung bis hin zu ausschließlichen Individuallösungen.“ Seine Uniability-Kollegin und Behindertenbeauftragte der Universität Graz, Barbara Levc, pocht auf Bewusstseinsbildung. „Wenn Bewusstsein und Struktur vorhanden sind, erfolgt der Barrierenabbau auch kontinuierlich.“ Auf baulicher Seite klappt das schon recht gut. Hier zeigen vor allem Fachhochschulen, was möglich ist. Eines der barrierefreien Vorbilder ist die FH Campus Wien. „Wir sind ständig um Optimierung bemüht. Erst kürzlich wich unser alter Haupteingang Schiebetüren, um Rollstuhlfahrern und Personen mit motorischen Einschränkungen den Zugang zu erleichtern“, sagt Ulrike Alker, Gender & Diversity Management-Leiterin am FH Campus Wien.

Individualisierung

Im Gegensatz zu Unis haben FH keine Behindertenbeauftragten. „Mit einer stärkeren gesetzlichen Verankerung ließen sich Maßnahmen leichter durchsetzen“, sagt Alker. „Andererseits können FH flexibler auf Bedarfsfälle eingehen. Es ist schwierig, allgemeine Lösungen anzubieten, weil jede Person andere Bedürfnisse hat. Daher dominiert bei uns eine individuelle Herangehensweise.“ Schon während Bewerbungszeit und Aufnahmeverfahren soll ein Nachteilsausgleich sichergestellt werden. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen bei der Anlaufstelle ihre Bedürfnisse melden. Damit das in der Praxis immer besser funktioniert, initiierten die FH Campus Wien und die FH Joanneum Graz eine Arbeitsgruppe zum Thema, in der mittlerweile fast alle FH vertreten sind.

Christine Steger koordiniert das Beratungszentrum Disability & Diversity an der Universität Salzburg. „Wir betrachten Behinderung nicht als körperliche Faktizität, sondern als soziale Konstruktion. Die Behinderung wird erst in der Interaktion am Standort sichtbar.“ Und das variiert nicht nur in jeder Fachrichtung, sondern von Lehrveranstaltung zu Lehrveranstaltung. „Deshalb muss jeder Fall individuell angesehen werden, weil wir von einer dynamischen Situation ausgehen.“ Der klassische Rollstuhlfahrer ist nicht die Zielgruppe des Beratungsbüros, weil die bauliche Barrierefreiheit an der Uni Salzburg ohnehin gegeben ist. „Die sichtbaren Behinderungen sind nicht das Hauptproblem. Die Nachteile erwachsen jenen, die eine nicht sichtbare Behinderung haben“, so Steger. Zum Beispiel für einen Studierenden mit Einschränkung seiner Schreibfunktion. Bei einer mehrstündigen Klausur wirkt sich das sehr nachteilig aus.

Standards müssen her

Wirklich problematisch ist für Steger, dass Studierende, die über keine Pflegegeldstufe verfügen, aber nachweislich Unterstützungsbedarf im Studium haben, keinerlei bezahlte Assistenz bekommen. Etwa gehörlose Studierende. Sie können Dolmetscherkosten nicht geltend machen und sind darauf angewiesen, dass Unis die Kosten für sie übernehmen, wie das etwa die Uni Salzburg macht: „Wir finanzieren Mitschreibhilfen und Gebärdendolmetscherkosten.“ Steger bemängelt auch die unterschiedliche Qualität der Uni-Ausstattungen. „Die Studierenden finden je nach Hochschule völlig unterschiedliche Voraussetzungen vor. So wie es an allen Unis einen standardisierten Frauenförderungsplan gibt, sollte es auch standardisierte Qualitätskriterien für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen geben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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