Alltagskultur unter der Lupe

Ethnologie. Die früheren Studien Volkskunde und Völkerkunde haben durch neue Bezeichnungen und teilweise auch neue Zugänge ein modernes Gesicht bekommen.

Der Begriff Ethnologiestudium wird heute für zwei unterschiedliche Studienrichtungen verwendet: Kultur- und Sozialanthropologie (früher Völkerkunde) beschäftigt sich mit der Erforschung fremder Kulturen, Europäische Ethnologie (früher Volkskunde) mit der eigenen Kultur.

Diese Unterscheidung sei vor allem im deutschsprachigen Raum relevant, sagt Peter Schweitzer, Vorstand des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie (KSA) der Universität Wien, dem einzigen österreichischen Standort, an dem KSA als eigenständiges Studium existiert. So sei Europäische Ethnologie eher geisteswissenschaftlich und europäisch orientiert, Kultur- und Sozialanthropologie eher sozialwissenschaftlich und außereuropäisch. Allerdings würden derlei Kategorisierungen heute nicht mehr strikt eingehalten.

Das Wiener KSA-Institut zählt, gemessen an der Zahl der Studierenden, zu den größten Europas. Rund 2300 Studierende befassen sich derzeit mit den Formen menschlichen Zusammenlebens quer durch alle Kontinente und Epochen.

Am Wiener Institut für Europäische Ethnologie geht es um „lokale Alltagskulturen und soziale Phänomene, die in überlokale Zusammenhänge eingebunden sind“. Als Beispiele für Forschungsthemen nennt Institutsleiterin Brigitta Schmidt-Lauber etwa Flashmobs in Wien, Flüchtlinge auf Malta oder polnische Au-pairs. Das Attribut „Europäisch“ ist hier nicht im geografischen, sondern im Sinn der europäischen Tradition empirischer Kulturwissenschaft zu verstehen.

Lernen, forschen, präsentieren

Die Universität Graz, wo seit den 1920er-Jahren Volkskunde gelehrt wurde, hatte traditionell Schwerpunkte in der regionalen Volkskulturforschung. Mit der Entnazifizierung und danach mit den gesellschaftlichen Reformbewegungen des letzten Jahrhundertviertels habe sich die vormalige Volkskunde zu einer international orientierten Gesellschaftswissenschaft entwickelt, sagt die Leiterin des Studiums Europäische Ethnologie, Johanna Rolshoven. „International reputierte Schwerpunkte sind zum einen die Alltagskulturforschung, die sich als kritische Kulturwissenschaft positioniert – Stichworte Feminismus, Ethnopsychoanalyse, Gouvernementalitätsforschung, Politische Anthropologie, Mobilitäten, Stadt-Raum-Kulturforschung –, zum anderen regionale historische Volkskunde, Religiositäten, Museum.“

Eine Besonderheit der Grazer Studienstruktur ist das Projektjahr im Zuge des Masterstudiums. Studierende setzen sich mit gesellschaftlich und kulturwissenschaftlich relevanten Themen auseinander und vermitteln die Ergebnisse am Ende des Projekts öffentlich. Ähnlich wie in Graz positioniert sich das Studium der Europäischen Ethnologie an der Universität Innsbruck. Der Studienbeauftragte, Ingo Schneider, zählt Erzählforschung, Ökonomische Anthropologie, Familienforschung, Europaforschung, Kulturtheorie, Theorie des kulturellen Erbes, Migration, Regionale Kulturanalyse zu den Schwerpunkten.

Auch das Studium Angewandte Kulturwissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt am Institut für Kulturanalyse nimmt die Alltagskultur in den Blick. Klagenfurter Alleinstellungsmerkmal sei, sagt Institutsvorstand Klaus Schönberger, die Verknüpfung wissenschaftlicher Grundlagen mit Anwendungsorientierung: etwa in Theater- oder Ausstellungsprojekten, bei Stadtführungen, bei eigenständig organisierten Kulturveranstaltungen und in geförderten Forschungsprojekten.

Lebendiges Museum

Die zentrale Rolle der Alltagskultur manifestiert sich für den Klagenfurter Institutsleiter nicht zuletzt in der Neuausrichtung des Volkskundemuseums Wien. Das vom Verein für Volkskunde getragene Museum entwickelte zusammen mit dem Wiener Institut für Europäische Ethnologie das Konzept einer Fusion beider Institutionen zu einem Campus Alltagskultur.

https://ksa.univie.ac.at/

https://euroethnologie.univie.ac.at/

https://studien.uni-graz.atwww.uibk.ac.at/geschichte-ethnologie/

www.uni-klu.ac.at/klm/inhalt/1.htm

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2017)

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