Die Handschrift ist ja so was von 97

Jugendliche finden sie altmodisch, Progressivgeister unnötig. In Österreich will man ihr jetzt zumindest die Schnörkel nehmen während man ihr in Finnland sogar auf den Leib rückt. Quo vadis, manus?

In der Feinkostabteilung brummt es. Der nadelgestreifte Mann neben mir wischt über den Bildschirm seines Telefons und fügt seiner Bestellung noch zehn Deka Gouda hinzu – nicht jedoch ohne entschuldigend Richtung Telefon zu deuten. Er hat wohl auch ein Haushaltsmanagement in seiner Wohnung sitzen, welches froh darüber ist, dass die elektronischen Einkaufslisten heutzutage jederzeit aktualisierbar sind. Auch wenn er schon am Heimweg ist. Zumindest lässt mich das seine Geste vermuten.

Szenenwechsel. Es läutet. Die Schülerinnen und Schüler der 7B zücken ihr Handy und fotografieren im Hinausgehen noch schnell das chaotische Tafelbild auf dem interaktiven Whiteboard des chaotischen Müller. Mitgeschrieben hat niemand. Viel zu anstrengen. Andernorts in der Stadt werden Sitzungsprotokolle via Evernote geshared, Aktuelles über Twitter und Whatsapp verstreut, Termine in den Kalender eingetippt, Briefe per Mausklick überstellt und Postkartenproduktionsfirmen durch Instagram-Urlaubsgrüße in den Ruin gestürzt. Auch der Lebenslauf ist schon lange tabellarisch auf .docx gebannt und Testamente sind mit Niki Lauda scheinbar ohnedies aus der Mode gekommen. Man habe ja bekanntlich nichts zu verschenken.

Wer braucht da also noch die Handschrift?

Gut, denke ich mir. Wenn wir unseren Schülerinnen und Schülern ausschließlich die Dinge beibringen, die sie im späteren Leben tatsächlich auch brauchen werden, dann können wir Lehrer tatsächlich Dienstagmittag nach Hause gehen. Das Radizieren könnten wir uns sparen. (Oder haben Sie in der Feinkostabteilung schon mal eine Wurzel gezogen?) Auch ein verminderter Dreiklang könnte uns Wurst sein. Ganz zu schweigen von einem hydrodynamischen Paradoxon, einem Ablativus Absolutus, einer Cahn-Ingold-Prelog-Konvention. Oder wie man eine Krebsmasche abkettet, eine Währungsreform durchführt, und einen Felgaufschwung abschwingt.

Warum ich gegen ein solches Szenario bin, muss ich – so vermute ich zumindest – nicht weiter erklären. Warum ich ein Verfechter der Handschrift bin, vielleicht dann doch:

Forschungen, die im Übrigen zu diesem Thema erst in den Kinderschuhen stecken, haben gezeigt, dass das Erlernen der Buchstaben mit Bleistift und Zettel (im Gegensatz zum Arbeiten an Bildschirm und Tastatur) im Gehirn eine verstärkte Aktivität in motorischen Hirnregionen führt. Es werden also „motorische Gedächtnisspuren angelegt, die bei der Wahrnehmung von Buchstaben aktiviert werden und das Erkennen des Buchstabens in seinem visuellen Erscheinungsbild erleichtert“ (Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. München: Droemer, 2012. 180ff.) – das Lesen würde also später leichter fallen. Keine schlechte Sache, vor allem, wenn man sich ausmalt, wo das Problem mit der bereits mangelhaften Lesekompetenz unseres Nachwuchses noch hinführen wird. Außerdem merke man sich Dinge leichter, wenn man sie handschriftlich festhält. (Jeder kennt den Schummelzettel, den man dann doch nicht gebraucht hat.)

Dass das Erlernen und die Pflege der Handschrift durchaus ihre Vorteile haben, leuchtet sogar meinen Schülerinnen und Schülern ein, auch wenn sie nach wie vor der Meinung sind, dass die Handschrift ja so was von 97, also aus dem letzten Jahrhundert, sei. Aber sie verstehen auch: Alt heißt nicht zwingend auch schlecht.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.