„Audrie & Daisy“: Vergewaltigt und gedemütigt

Daisy Coleman
Daisy Coleman(c) Netflix
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Die Dokumentation „Audrie & Daisy“ porträtiert zwei Teenager-Mädchen, die von Schulkollegen sexuell missbraucht und danach gemobbt wurden. Berührend – und dabei nie respektlos.

Audrie Pott hat sich im September 2012 auf einer Party in einer amerikanischen Kleinstadt betrunken. Ein Freund trug die 15-Jährige in eines der Schlafzimmer, dort machten er und Freunde sich einen „Spaß“ mit dem besinnungslosen Mädchen. Sie malten sie mit Permanentmarker an. Erst ihr Gesicht, dann ihren Körper, ihre Brüste, ihren Hintern. Sie missbrauchten sie sexuell – und machten Fotos von ihr.

Ein paar Monate davor, im Jänner 2012, probierte die 14-jährige Daisy Coleman mit ihrer 13-jährigen Freundin Paige heimlich Alkohol, ebenfalls in einer Kleinstadt in den USA. Die beiden Mädchen schlichen sich auf eine Party eines Freundes von Daisys älterem Brüder, wo sie noch mehr zu trinken bekamen. Der 17-jährige Gastgeber Matt nahm Daisy mit auf sein Zimmer, wo er sie vergewaltigte. Im Zimmer nebenan wurde Paige von dem 15-jährigen Zach vergewaltigt. Die Burschen luden Daisy anschließend vor dem Haus ihrer Familie ab, wo sie bei Minusgraden stundenlang bewusstlos draußen lag, bevor ihr Mutter sie fand.

Diese beiden Fälle, eigentlich die beiden Mädchen, stehen im Zentrum der aufwühlenden Dokumentation „Audrie & Daisy“. Audrie weniger als Daisy, denn die 15-Jährige beging neun Tage nach der „Partynacht“ Suizid. Auch Daisy hat mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen – sie überlebte.

Mobbing

Die Mädchen wurden nicht nur sexuell missbraucht, sondern auch gemobbt. Die Fotos von Audrie machten in ihrer Schule die Runde. Von Daisy gab es ein Video, aber der Bursche, der die Aufnahmen machte, hat sie gelöscht, weil sie sonst als Beweismittel gegen ihn verwendet werden hätten können.

Die Mädchen wurden beschimpft, in Sozialen Medien wie Facebook und Twitter und auch in der Schule. Ihre Schulkollegen warfen ihnen vor, sie seien „Schlampen“, sie hätten die Tat erfunden, sie hätten „nur bekommen, was sie verdient haben“ und sie seien selber schuld, weil sie ja betrunken waren. Es gab sogar einen Hashtag, mit dem Daisys Mitschüler ihre Solidarität mit dem Täter ausdrückten, als die Vergewaltigungsanklage gegen Matt fallen gelassen wurde.

Freunde und Mitschüler wendeten sich ab. Daisys älterer Bruder schildert das in der Doku eindringlich: Der große, muskulöse junge Mann erzählt mit tiefer Stimme, wie er am ersten Schultag nach der Vergewaltigung seiner Schwester in der Cafeteria plötzlich alleine am Tisch saß. Seine Freunde und seine Kollegen aus dem Football-Team waren auf Matts Seite. Es blieb nicht bei Verbalattacken. Das Haus der Familie Coleman brannte nieder.

Fokus liegt auf den Opfern, nicht auf den Tätern

Das alles erzählt die Doku von Bonni Cohen und Jon Shenk unaufgeregt, immer liegt ihr Fokus auf den Opfern, denen sie in ihrem Film viel Raum geben. Sie haben Daisy in den vier Jahren seit der Vergewaltigung öfter interviewt – das merkt man alleine an den Haaren, die das Mädchen erst blond, dann schwarz und irgendwann rot trägt. Je nachdem, wie es ihr gerade geht.

In Interviews mit den Ermittlern entlarvt die Doku das oft betriebene „Victim blaming“. Der Sheriff im Fall Daisy, Darren White, prahlt erst noch damit, dass ihm keiner im Ort übergeordnet ist. Dann bemitleidet er die Buben, die Täter. „Vergewaltigung“ sei momentan ein populärer Begriff, sagt er.

Missbrauch als Normalität

Das erinnert an einen anderen Fall aus den USA, der heuer im Frühling für breites Medienecho sorgte: der Stanford-Student Brock Turner, ein erfolgreicher Schwimmer, wurde wegen sexuellen Missbrauchs zu sechs Monaten Haft verurteilt. Der Richter setzte die Strafe bewusst niedrig an, um dem Athleten seinen weiteren Lebensweg und seine sportliche Karriere nicht zu verbauen. Das Opfer in dem Fall wandte sich in einem langen Brief an den Turner, in dem sie ihre Sicht schildert – eine absolut lesenswerte Lektüre, die wütend macht (hier der Link). Die vielen, heftigen Reaktionen auf den Fall gibt es auch, weil dieser kein Einzelfall ist. Es ist erschreckend, wie „normal“ es zu sein scheint, dass es solche Taten gibt – und die Täter damit davonkommen.

Vergewaltigungen im College-Umfeld kommen in der Doku nicht vor, diese beschränkt sich auf High-Schools. Zahlen oder Daten zum Thema präsentieren die Filmemacher Cohen und Shenk übrigens nicht. Es werden keine AktivistInnen interviewt oder Politiker, die nicht selbst am Fall beteiligt waren. Cohen und Shenk stellen aber weitere Mädchen vor, denen Ähnliches passiert ist: Delaney Henderson zum Beispiel, deren Familie von der Westküste zu Ostküste umzieht, weil sie gemobbt wird und die sich aber trotzdem für Daisy engagiert.

„20 Minuten Action“

Brock Turners Vater nannte die Tat seines Sohnes „20 Minuten Action“ („20 minutes of action“). Diese Aussage passt zu einem Aspekt, der mich an „Audrie & Daisy“ nachhaltig beschäftigt: Was sind das für junge Männer, die es okay finden, mit bewusstlosen Mädchen Sex zu haben? Matt behauptet, Daisy habe sich mit dem Sex einverstanden erklärt, aber wie kann sich eine 14-Jährige „einverstanden erklären“, wenn sie so weggetreten ist, dass sie von der Einfahrt ihres Hauses bei Minusgraden stundenlang draußen liegen bleibt?

In welcher Welt leben diese Teenager, in der es sozial akzeptiert ist, sich an einem minderjährigen bewusstlosen Mädchen zu vergehen, und in der dieses Mädchen dann als „Schlampe“ gilt?

In diese verquere High-School-Welt, in der der soziale Druck immens sein muss, gibt die Serie nur einen kleinen Einblick. „Audrie & Daisy“ ist eher ein Porträt der Mädchen, denen sich die Filmemacher sensibel und respektvoll nähern. Gerade Daisy ist für mich am Ende eine Heldin. Zwei Täter im Fall Audrie werden aber auch interviewt – das ist Teil ihrer Strafe. Was sie gelernt haben, wird einer gefragt. Die Antwort ist ernüchternd: Mädchen tratschen viel.

Seit Freitag ist die „Audrie & Daisy“ auf Netflix zu sehen. Der Online-Streamingdienst hat die Doku am Sundance Film Festival gekauft

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