Noam Chomsky: Der gescheiterte Staat

Gibt es ein lesenswertes schlechtes Buch? Ja: Noam Chomskys "Der gescheiterte Staat". Das Sündenregister der USA, faktenreich aufgelistet -
in Form eines Rundumschlags.

Das ist ein schlechtes, lesenswertes Buch. Es ist schlecht, weil es sich um einen wenig systematischen Rundumschlag gegen die Politik der Vereinigten Staaten handelt. Chomsky lässt sich oft ablenken und mischt Belege und Meinungen. Doch es ist ein lesenswertes Buch, weil es eine Fülle von historischen Tatsachen und Zitaten bringt, die nicht zum Inhalt der üblichen Medien gehören. Kein ausgewogenes Bild der Welt, aber ein Beitrag zur Ausgewogenheit, weil der herrschende Kommunikationsstrom auch verzerrt ist.

Noam Chomsky, einer der großen Linguisten und Sprachphilosophen, Professor am Massachusetts Institute of Technology, ist weltbekannt für seine scharfe Kritik der USA-Politik. In den letzten Jahren hat Amerika die Angst vor "gescheiterten Staaten" in aller Welt geschürt, als Teil jener "Politik der Angst", die im Interesse der amerikanischen Wirtschafts- und Politikelite gepflegt wird.

Nach Chomskys Meinung sind die USA selbst der "gescheiterte Staat". Die USA halten sich an keine internationalen Abkommen, an keine völkerrechtlichen Prinzipien, an keine Gerichtsurteile, an keine diplomatischen Praktiken zwischen zivilisierten Völkern. Wenn andere Staaten dasselbe tun, gilt dies als ungehörig, bedrohlich und aggressiv, nur die Supermacht nimmt das Recht für sich in Anspruch, nach Gutdünken Krieg zu führen, präventive Militärschläge zu üben, fremde Regierungen abzusetzen, Versprechen nicht einzuhalten und demokratische Wahlen nicht anzuerkennen. Und ganz offen Kriegsverbrechen zu begehen; so Nixons Anweisung für die Bombenangriffe auf Kambodscha: "Alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt."

Es sind keine Einzelfälle, es handelt sich um ein Muster, das sich durch die letzten Jahrzehnte zieht. Natürlich geht es den USA um Gott, um die Mission des Landes, um Auserwähltheit, um Demokratie. Aber es gibt eine lange Liste von Fallstudien darüber, wie die USA, begleitet von entgegengesetzter Rhetorik, die übelsten Diktatoren, Folterer, Korruptionisten und Kriegsverbrecher unterstützt haben, wenn es ihnen in den Kram gepasst hat: Ceausescu, Suharto, Marcos, Duvalier, Chun Doo-hwan, Pinochet, Alvarez, R­os Montt, Somoza, Karimow in Usbekistan und Alijew in Aserbeidschan. Andererseits gingen sie nicht selten gegen de-mokratisch gewählte Führer vor, gegen Hugo Ch¡vez beispielsweise. Der Castroismus schien, unzähligen Dokumenten zufolge, deshalb gefährlich, weil er großen Zuspruch im Volke fand; das ist wahres Demokratiebewusstsein. 95 Prozent der Türken lehnten es ab, die Amerikaner für den Irak-Krieg eine Front von ihrem Land aus errichten zu lassen; als sich die Regierung dem Volk beugte, wurde ihr von den USA "demokratische Unglaubwürdigkeit" bescheinigt - und von einem US-Vertreter wurde das türkische Militär beschimpft, weil es die Regierung nicht zum Parieren gebracht habe. Chomsky hat einen Vorschlag: die amerikanischen Demokratieverfechter an ihren Taten und nicht an ihren Worten zu messen.

Der Irak ist ein Beispiel für die unsinnige US-Politik: die Förderung eines Regimes, das man nach einer Kehrtwende scharf verurteilte; mörderische Sanktionsfolgen, die in Wahrheit das Hussein-Regime stützten; nach der Besetzung Plünderungen gefährlicher militärischer Güter, praktisch unter den Augen der Amerikaner; das große Geldverdienen mit den irakischen Ressourcen, unter Inkaufnahme von Misswirtschaft und Korruption. Ein anderes Beispiel ist Israel: Die Berichte dürften nicht Allgemeinwissen sein, wie oft sich die Palästinenser um diplomatische Vereinbarungen bemüht haben, während von amerikanischer Seite gleichzeitig lautstark ihre fundamentalistische Unversöhnlichkeit beklagt wurde; oder wie die expansiven Territorialstrategien der Israelis für die Medien geschickt inszeniert werden; oder wie Palästinensersiedlungen strategisch von Wasser und Versorgung abgeschnitten und ausgelöscht werden.

Amerika richtet sich nach eigenen Interessen, vor allem Wirtschaftsinteressen. Deshalb lenkt intensives Demokratie-Gerede davon ab, dass die amerikanische Regierung in Wahrheit die öffentliche Meinung auch im eigenen Lande ignoriert, von der Krankenversicherung bis zur Umweltpolitik. Dass die letzten Präsidentenwahlen in den USA jeder "Bananenrepublik" würdig gewesen wären, steht außer Frage.

Die Demokratieverachtung wird auch durch zahlreiche Rechts- und Verfassungsbrüche belegt, den Einsatz von Folter, die geheimen Gefängnisse, Abhöraktionen. Da wird jeder zum Feind, der widerspricht: die UNO, das Internationale Rote Kreuz, der Internationale Gerichtshof, Menschenrechtsorganisationen, jene Medien, die über Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung berichten. Der UN-Botschafter John Bolton im Wortlaut: "Es gibt keine Vereinten Nationen. Es gibt bloß eine internationale Staatengemeinschaft, die gelegentlich von der einzigen wirklichen Supermacht angeführt wird - den Vereinigten Staaten -, wenn es deren Interessen entspricht und wenn sie dafür Verbündete findet."

Als neues Prinzip internationaler US-Politik gilt: Es mag "illegal" sein, wenn es nur "legitim" ist. "Legitim" ist alles, was selbst definierten höheren Zielen dient, Kampf gegen Terror, Verbreitung der Demokratie. Der Präsident, die Außenministerin, andere Instanzen sagen es offiziell: Ein Präemptivschlag ist gerechtfertigt, wenn sich Amerika bedroht fühlt. Amerika braucht dazu die Zustimmung von niemandem. Völkerrecht ist kein Hindernis. Bedrohung liegt auch dann vor, wenn Amerikas "ungehinderter Zugang zu Schlüsselmärkten, Energiequellen und strategischen Ressourcen" gefährdet ist.

Immer wieder dasselbe Schema: Wenn bei einem Gerichtsurteil herauskommt, was die USA für "richtig" halten - fein; sonst erklärt man das Urteil für unangemessen und unanwendbar. Wenn bei einer Wahl in einem anderen Land der "richtige" Kandidat siegt, jubelt man über die Demokratie, ist es der "falsche", erklärt man das Land für gefährlich und fördert allenfalls Putschversuche. Indien ist befreundet und man unterstützt das Atomprogramm; der feindliche Iran darf seine in geltenden Abkommen verbürgten Rechte keinesfalls wahrnehmen.

Wer glaubt, dass Chomskys Anklagen auf bloßen Vorurteilen beruhen, der wird sich die historisch-politischen Belege des MIT-Professors genauer ansehen müssen - er tut allerdings vermutlich gut daran, auch noch mehr zu lesen als dieses Buch, um der ganzen Wahrheit näherzukommen. Denn natürlich wird hier die Weltgeschichte selektiv durchforstet. Die zahlreichen Chomsky-Fans werden ohnehin applaudieren.

Noam Chomsky
Der gescheiterte Staat
400 S., geb., € 25,60 (Kunstmann Verlag, München)

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