Schicksal: Sohn sein

Golo Mann schrieb das bestverkaufte historische Buch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - und blieb dennoch im Schatten seines Vaters. Urs Bitterli nähert sich in einer ersten Biografie schweizerisch-distanziert dem Historiker.

Er habe den Tod des Vaters gewünscht, sagte Golo Mann zu Marcel Reich-Ranicki. "Ich er schrak", erinnert sich dieser in "Mein Leben". Wer der Quelle nicht ganz trauen mag, entdeckt das seltsame Geständnis auch später noch einmal, in einem vertraulichen Brief.

Dem mittleren Sohn von Thomas Mann war es als schweres Schicksal mitgegeben: Er wurde "als ,Sohn' geboren", wie er selbst einmal, in dritter Person, über sich schrieb, "was er gar nicht liebte, wogegen er aber nichts unternehmen konnte". Sein melancholisches Wesen verstärkte noch diese leidende Verbitterung über das Sohn-Sein. Dabei hieß man ihn zu Recht "den großen Sohn eines großen Vaters". So widerfuhr ihm mehr Anerkennung als etwa Siegfried Wagner, von August von Goethe oder F. X. Wolfgang Mozart ganz zu schweigen.

Wie groß war der Sohn des großen Thomas Mann nun wirklich? Dem direkten Vergleich hält er nicht stand. Aber er lässt, aus heutigem Abstand gesehen, seinen einst viel höher notierten Bruder Klaus, vielleicht sogar seinen Onkel Heinrich hinter sich. Sein grandioser "Wallenstein" war - und blieb, wiewohl dick und teuer - ein Verkaufsschlager, der es auf den Bestsellerlisten 1971 mit dem "Dressierten Mann" Esther Vilars aufnahm. Das Hauptwerk Golo Manns war das bestverkaufte historische Buch der zweiten Jahrhunderthälfte im deutschen Sprachraum. Da konnte auch vorher aus der unglaublichen Mann-Familie keiner mithalten, er hieße denn Thomas.

Nach langer, fast liebevoll zu nennender Arbeit hat der Schweizer Geschichtsprofessor und Literaturkenner Urs Bitterli jetzt die erste umfassende Biografie Golo Manns vorgelegt. Er begegnet seinem Protagonisten mit hoher Achtung, verschweigt aber auch weniger Achtbares nicht. Ohne Legendenbildung gelingt so eine schweizerisch-distanzierte Annäherung an eine vielseitige, beinahe nicht zu fassende Persönlichkeit.

Um es deutlicher zu sagen: Bitterli scheut jedes gröbere Vereinfachen. Er ist zu seriös, um (scheinbar) souveräne Urteile zu fällen. Er schreibt sehr gut, verzichtet aber auf journalistische Hilfen für den Leser. Als Historiker analysiert er mit tiefem Ernst unzählige Äußerungen, die der Historiker G. M. vor der dahinziehenden Zeit abgegeben hat. Später lähmten Krankheiten und Alter die Kraft jenes Mannes, den Bitterli im Untertitel "Instanz und Außenseiter" nennt; Letzteres war G. M. immer, Ersteres manchmal. Die ihm eigene Seriosität führt und verführt

Urs Bitterli nun zu einer Art Gleichbehandlung des in rauen Mengen Überlieferten. So spannend sich die Professorenkämpfe der Adenauer-Zeit auch lesen, so absurd und hinterhältig, wiewohl wirkungsvoll der Antisemitismus-Vorwurf des Zwiegespanns Horkheimer-Adorno gegen den Halbjuden und Emigranten G. M. auch war: Der "als ,Sohn' Geborene" war als Wissenschaftler weder originell noch ein Neuerer, schon gar kein Schulbegründer. Vielleicht hielten ihn die Neomarxisten vom Frankfurter Lehrstuhl sogar zu seinem eigenen Wohl fern. Das Jahr 1968 hätte G. M. im Brennpunkt der Studentenrevolte als Professor ohnehin nicht überstanden. Die beharrliche Marx-Kritik Golo Manns, seine tiefe Skepsis gegenüber der US-Außenpolitik ("Die Amerikaner werden ,Weltpolitik' niemals lernen!", schon 1952), seine Vorahnung weiterer grober Fehlschläge nach Vietnam erwiesen sich zwar als richtig. Aber sie allein hätten Universitätsprofessor Mann nie zur besonderen, über seine Lebenszeit ragenden Persönlichkeit befördert. Dazu kamen noch seine politisch peinlichen Ausrutscher, etwa die unbeirrte Unterstützung Franz Josef Strauß' - nach Parteinahme für Brandt.

Einen Biografen zu kritisieren ist leicht, überhaupt aus der parteiischen Sicht des Dilettanten und faszinierten "Wallenstein"-Lesers. Der hob für sich Golo Mann sofort in den literarischen Himmel, nachdem er zuvor die "Deutsche Geschichte" zwar mitreißend geschrieben, aber doch allzu kommentierend, quasi verplaudert gefunden hatte. Aber selbst ein solcher Enthusiast könnte die Nahtstelle zwischen dem bloß Bemerkenswerten, das G. M. von Familie und Lebenslauf her repräsentierte, und dem Außerordentlichen seines Hauptwerks nicht wirklich orten, geschweige denn mit ein paar treffenden Sätzen erklären.

Möglich auch, dass einem beim Biografen einfach die Begeisterung für den monumentalen "Wallenstein" abgeht. Wo bleiben jene Zitate aus den Kapiteln "Die großen Geschäfte" und "Nachtphantasie", die einst den jungen Leser entflammten? Ersteres zeigt wunderbar und ungelehrt, wie Wirtschaft im 17. Jahrhundert funktionierte, Letzteres beweist, wie der Autor jeden wissenschaftlichen Zwang abwirft, wenn er es für angebracht hält. Aber das mag Geschmacksache sein. Nicht so der unvergleichliche "Wallenstein"-Stil. Darüber ist viel Kluges gesagt worden. Auch Bitterli legt ausführlich dar, wie verwandt - und doch ganz anders! - des Sohnes Schreibsprache mit jener des Meisters aller Klassen Thomas ist. Mehr noch: Der Schweizer macht uns auf stilistische Parallelen zwischen G. M. und Tacitus aufmerksam (so wie er uns an anderer Stelle seine hohe Meinung über Golos Horaz-Übertragungen verrät).

Die deutsche Fachwelt der quantifizierenden historischen Sozialwissenschaften fiel natürlich über den "Wallenstein" her: Narrative Erzähltechnik! - veraltete Rankesche Auffassung der Rolle großer Männer! - das war das mindeste, was an Vorwürfen kam. Der Autor wehrte sich mit Würde. Spät, aber grimmig fiel Golo Manns Triumph nach 1989 aus, als der reale Sozialismus und mit ihm der Neomarxismus einer ganzen Historikerschule zusammenbrach.

Nun ja, er war ein Konservativer. Treue und Verlässlichkeit waren ihm selbstverständlich; Überlieferung, Bewahrung, Kontinuität sah er als Lebenspflichten an. Im Umgang mit Menschen war der reservierte Hagestolz (mit nie geouteter homoerotischer Neigung) zugleich Griesgram und Altruist. "Er ist borstig, schüchtern, bissig und unglücklich, aber immer anständig. Er ist als Charakter viel mehr als sein Vater", urteilte Karl Jaspers über seinen Dissertanten. Typisch für G. M.: Er witterte nie Moden, noch weniger richtete er sich nach ihnen. Seine - durch ein phänomenales Gedächtnis gestützte - Bildung, die ins Aschgraue ging, hemmte ihn im akademischen und publizistischen Tagesgeschäft oft mehr, als sie ihm nützte. Am Ende seiner Tage kam er ins "melancholische Brüten über die Fragwürdigkeit der Menschennatur". Bitterli sieht eine "Spannung zwischen Wissenschaftler und Künstler", die G. M. "in seinem Werk aufzuheben versuchte, indem er sich der Wahrheitssuche verpflichtete" und, nicht zuletzt, die gefundene Wahrheit "in schöne sprachliche Form zu kleiden suchte".

Recht treffend und unaufgeregt gesagt. Aber auch hier muss der Leser, neben seinen höchstpersönlichen Superlativen, selbst das Lösungswort hinzufinden: Wallenstein! [*]

Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Biografie, 704 S., geb., € 29,90, (Kindler Verlag, Berlin)

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