"Er hat doch die Sonne im Zimmer!"

Sensible Gefühlslandschaften von Graziella Hlawaty.

An ein Seismogramm, welches das geringste Vibrieren an Fenster scheiben ebenso unbestechlich aufzeichnet wie ein Beben, das Städte zum Einsturz bringt, erinnern die 16 Erzählungen von Graziella Hlawaty. Die geheimnisvolle Forschungsreise mit M. A. Plivenius wird zur Darstellung gigantischer Katastrophen, indem sie durch ein Archiv mit bewegten Bildern führt, das der Bestandsaufnahme der gesamten Menschheitsgeschichte dient. Diese auf abertausenden Monitoren flimmernden Bilder von Massenmorden und Gräueltaten sind so schrecklich, dass sie nur in völliger Lautlosigkeit aufgezeichnet werden können. "Wer die Augen davor verschloss, konnte meinen, es sei nichts geschehen, und es geschah auch weiterhin nichts" ("Die Durchquerung des Theaters").

Die Erzählerin, die in vielen Geschichten auftaucht, scheint immer nur eine zu sein, wenn sie, die schon bei der Durchquerung dieser Archive die Augen schließen musste, sich vom Anblick eines Verwundeten losreißt und bei einem Spitalsaufenthalt den Blick in die Intensivstation meidet. Aber die Geräusche, die in dieser Sequenz nicht ausgeblendet werden können wie in einem fiktiven Archiv, zwingen sie, den Blick zu ihrer von Schmerzen gepeinigten Zimmernachbarin zu wenden. Und nur so bemerkt sie rechtzeitig, dass sich das Gestänge von deren Atemgerät verschoben hat, und kann, mit einer kleinen Handbewegung, den leidvollen Kreislauf durchbrechen ("Die Berührung").

Diese Verschränkung von Mikro- und Makrokosmos sowie die Technik, verschiedene Formate, das surreal fantastische und das penibel erinnerte, ineinander zu flechten, werden schon in der zweiten Erzählung deutlich. Eine Wasserlache, die den Untergang eines Schiffes ankündigt, bedeutet für den Experten, der sie wahrnimmt, nichts anderes, als dass sein Experiment mit einem neu entwickelten Zeitzünder geglückt ist. Ein Kind, das dabei ist, ein Aquarell für seine Mutter zu malen, wird von grenzenloser Verzweiflung gepackt, als das Wasser, von dem es zu viel am Pinsel behalten hat, alle Farben bis zu einem unkenntlichen Grau ineinander verfließen lässt ("Veränderungen, die Welt betreffend").

Die Stärke des Bandes ist aber nicht in Inhalten dingfest zu machen, sondern in der filigranen Ausarbeitung, in der sensiblen Darstellung von Gefühlen und Landschaften, eigentlich Gefühlslandschaften und scheinbar peripheren Schilderungen.

"Sein Arbeitsplatz winkt ihn heran - der Computer, der Drucker, der Schreibtisch: Heiligenschein liegt über seinem Schlachtfeld, über seiner Gedankenwiese, die ganze Schreibwerkstätte ist in Gold getaucht, quillt über von Leuchtlampenlicht. Wer hat gesagt, dass Schreiben dunkles Einsamtun ist? Er hat doch die Sonne im Zimmer!" heißt es da in der Erzählung "Abreise eines Dichters", die dem 2001 verstorbenen Christian Loidl gewidmet ist. Einsamtun ist aber nicht Einsamkeit. Diese kann die Menschen über die Poesie zusammenbringen, wie Graziella Hlawaty und Christine Lavant, mit der sie in der wohl dichtesten Erzählung des Bandes einen fiktiven Dialog führt: "Aber sie getraut sich dann ja doch nicht, die Lavant zu fragen oder gar mit ihr zu reden über die Einsamkeit. So seltsam ist es doch um uns bestellt. Viele tausend Worte vermögen wir miteinander zu reden. Aber die todwichtigen umgehen wir wie die Katze den heißen Brei." [*]

Graziella Hlawaty: Auf Leben und Tod. Erzählungen. 124 S., geb., € 15 (Bibliothek der Provinz, Weitra)

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