Der Mann, der den Paris-Attentätern schrieb

 „Weil ich ein Vater bin, habe ich das geschrieben.“ Der 35-jährige Antoine Leiris über sein spontanes Posting drei Tage nach dem Attentat.
„Weil ich ein Vater bin, habe ich das geschrieben.“ Der 35-jährige Antoine Leiris über sein spontanes Posting drei Tage nach dem Attentat.(c) APA/AFP/DOMINIQUE FAGET
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Beim Anschlag im Bataclan-Theater starb auch die Frau des Kulturjournalisten Antoine Leiris. Sein Internet-Posting „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ ging um die Welt, nun hat er ein ergreifendes Buch dazu geschrieben: ein Gespräch.

„Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Diese Zeilen gingen vor sechs Monaten um die Welt, einen Tag nach dem Anschlag bei einem Rockkonzert im Pariser Theater Bataclan am 13. November 2015, bei dem islamistische Terroristen 90 Menschen ermordeten. Eine davon war die 35-jährige Hélène Muyal-Leiris. Ihr Ehemann, der Kulturjournalist Antoine Leiris, war an jenem Abend mit seinem 17 Monate alten Sohn Melvil zu Hause.

Drei Tage nach dem Attentat postete er auf Facebook eine Botschaft, die formell an die Terroristen gerichtet war, eigentlich aber an seine Freunde und die Freunde seiner Frau (dass das Posting in der Folge Hunderttausend Mal geteilt wurde, ahnte er nicht) – und wohl nicht zuletzt an sich selbst.

„Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt“, heißt es darin auch. „Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern (. . .), er wird seine Nachmittagsjause essen wie jeden Tag, dann werden wir wie jeden Tag zusammen spielen, und sein ganzes Leben lang wird dieser kleine Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass bekommt ihr nicht.“

Zu unpolitisch?

Große Worte angesichts eines solchen Bubenschicksals. „Natürlich war das ein bisschen anmaßend“, sagt Leiris heute. „Melvil wird sich irgendwann seinen Weg selbst suchen müssen, den kann ich ihm nicht vorschreiben, ich kann ihm nur ein Rüstzeug dafür mitgeben.“ Welchen Weg er selbst in den ersten zwei Wochen nach der Nachricht vom Tod seiner Frau gemeinsam mit seinem Sohn gegangen ist, beschreibt er schlicht und ergreifend in seinem Trauerbuch „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, das nun im Blanvalet Verlag auf Deutsch erschienen ist: Momentaufnahmen des Weiterlebens, Weiterliebens.

Dass Antoine Leiris in seinem Posting den Umständen, unter denen seine Ehefrau umgekommen ist, so wenig Aufmerksamkeit widmete, schien vielen unverständlich. „Weil ich ein Vater bin, habe ich das geschrieben“, sagt er im Gespräch mit der „Presse“. „Ich habe die Verantwortung für dieses Kind. Er ist noch so klein, er spielt, er lacht, er hat ein Leben vor sich . . . Wie wären unsere Tage, wenn das Furchtbare ständig auf uns lasten würde!“ Aber kann man deswegen die Terroristen als „Botschafter des Schicksals“ bezeichnen, wie er es getan hat? „Das muss man im Kontext der ersten Tage sehen.

Ich war in Paris, alle rundum wussten, was passiert war, ich musste mich und meinen Sohn schützen, eine Barriere aufstellen.“ Das sei mittlerweile anders, sagt Leiris, der beim Prozess als klagende Partei auftritt – vor allem, um an die Informationen heranzukommen. „Jetzt gehe ich in die Geschichte rein.“

„Ich verzeihe nicht!“

Was hat die Verweigerung von Zorn und Hass mit Verzeihen zu tun? Da wird Leiris fast heftig. „Ich verzeihe nicht! Ich sage zu den Terroristen, ich gebe euch nicht, was ihr wollt, was ihr mit den schlimmsten Mitteln zu bekommen versucht habt. Und ich will, dass sie bekämpft werden, aber nicht mit Zorn und Rachedurst, sondern mit demokratischen Mitteln. Vor allem muss man sie analysieren und verstehen.“ Ob es im Lauf der vergangenen Monate oft schwierig war für ihn, Zorn und Hass so aus seinem Inneren auszusperren? „Um ehrlich zu sein, gar nicht so sehr. Ich muss mit meinem Sohn weitermachen. An Hélène denke ich viel, aber für Zorn und Hass habe ich gar nicht den inneren Platz, zumindest derzeit.“

Antoine Leiris spricht leise und unprätentiös, er wirkt nicht wie einer, der gern im Vordergrund steht. „Ich spreche nicht gern für die anderen“, sagt er selbst, „aber mein Posting hat eben alle möglichen Reaktionen ausgelöst.“

Und er schildert, wie ihn vor wenigen Tagen ein Feuerwehrmann auf der Straße angesprochen habe. „Er hat gesagt, dass er im Bataclan war, dass er und seine Kollegen normalerweise bei der Arbeit Witze reißen, um Distanz zum Geschehen herzustellen, was er diesmal nicht geschafft hat. Und dass meine Worte ihm gutgetan haben.“ Einzelne Angehörige von Opfern des Bataclan-Anschlags hätten ihn treffen wollen, erzählt er auch. „Ich habe zunächst keinen Sinn darin gesehen, aber dann hat es gutgetan, keine moralischen Barrieren zu haben, direkt reden zu können, ohne dass einem andere ständig ihr Beileid ausdrücken. Es entstand eine Art unmittelbarer Brüderlichkeit.“

Das Buch endet am zwölften Tag mit dem ersten gemeinsamen Gang von Vater und Sohn ans Grab, wo Melvil beim Näherkommen ruft: „Mama ist da“, die Hand des Vaters loslässt, auf den Stein krabbelt, die Blumen zerdrückt. „Ich habe Angst, er könnte sie suchen“, schreibt Leiris. „Er geht seinen Weg durch den Dschungel der Trauerbekundungen. Greift nach dem Foto. Nimmt es an sich. Kommt dann zurück zu mir und nimmt mich bei der Hand. Ich weiß, dass er sie gefunden hat. Er will wieder gehen. Jetzt, jetzt gleich, er will, dass wir Mama mit nach Hause nehmen . . . Sie ist bei uns. Wir sind drei.“

Zur Person

Antoine Leiris, geboren am 21. Mai 1981, war Kulturredakteur bei den Radiosendern France Inter und France Bleu, heute lebt er als freier Journalist in Paris. Am 16. November 2015 postete er auf Facebook die Botschaft „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, die sich viral verbreitete. Das gleichnamige Buch ist nun auf Deutsch bei Blanvalet erschienen: geb., 144 S., 12,40 Euro, als E-Book 11,99.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2016)

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