Als die Welt erzitherte

Von der Wiener Werkzeugschlosserei in die Königshäuser der Welt und retour nach Sievering. Anton Karas und sein "Harry-Lime-Thema": wie man mit einer Handvoll Takte Musik sein Glück - und Unglück - machen kann. Zum 100. Geburtstag.

Als Anton Karas im Jahr 1985, im Alter von 78 Jahren, starb, durfte in den vielen veröffentlichten Nachrufen ein Attribut nicht fehlen: weltberühmt. Wie wohl kein anderer österreichischer Unterhaltungsmusiker des 20. Jahrhunderts hatte der stets einfach und bescheiden wirkende Zitherspieler aus Wien eine Bekanntheit weit über die Grenzen seines Landes hinaus erlangt. Und das mit einer einzigen Melodie: dem "Harry-Lime-Thema" aus dem Film "Der dritte Mann".

Geboren am 7. Juli 1906, wuchs Karas im Haus Leystraße 46 im 20. Wiener Gemeindebezirk auf. Es war ein klassisches Arbeitermilieu, in dem er zusammen mit seinen Eltern Theresia und Karl sowie vier Geschwistern (Karl, Friedrich, Hermine, Maria) Kindheit und Jugend verbrachte. Rund um die Leystraße, im Stadtteil "Zwischenbrücken", reihten sich Arbeiterwohnhäuser und Fabriken aneinander, der Volksmund sprach ob der vielfach desolaten und ärmlichen Verhältnisse von einem "Glasscherbenviertel". Schon als Kind begeisterte sich Karas für Musik. Die bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Familie - der Vater war Fabrikarbeiter - erlaubten jedoch nur das Erlernen der damals in der Alltagsmusik überaus populären Zither. Sein erstes Instrument, so erzählte er später immer wieder, entdeckte er im Alter von zwölf Jahren auf dem Dachboden der Großmutter. Auch die Brüder und Schwestern erlernten ein Instrument. Später wird man verklärend feststellen: "Fünf Geschwister spielten auf Geige, Gitarre und Zither gleichzeitig drauflos, dass die Nachbarn den Atem anhielten."

Von 1920 bis 1924 besuchte Karas Abendkurse an der Pollux-Musikschule, während er tagsüber - auf Wunsch seines Vaters - eine Lehre als Werkzeugschlosser absolvierte. Nach der Gesellenprüfung arbeitete er als Werkzeugschlosser bei der Firma Fross-Büssing, doch schon im Jänner 1925 wurde er "aus Mangel an Arbeit" gekündigt - eine Entscheidung, die ihm nicht ganz unwillkommen war. Denn endlich konnte er sich seiner wahren Leidenschaft widmen. Seine Laufbahn als Berufsmusiker begann. An die Stelle der schmutzigen Fabrikshalle trat das weinselige Heurigenlokal. Dies bedeutete nicht zuletzt weitaus höhere Verdienstmöglichkeiten, ein auch für den Vater überzeugendes Argument. Vier Jahre lang studierte Karas Harmonielehre an der Wiener Musikakademie. Daneben konzertierte er weiterhin, etwa mit dem renommierten Zithervirtuosen Adolf Schneer, bei verschiedenen, zumeist in Wien-Sievering gelegenen Heurigen. Dies sollte künftig seine tägliche Beschäftigung sein.

1925 verließ Karas das elterliche Heim in der Leystraße und übersiedelte in eine nahe gelegene Wohnung in der Kaiserwasserstraße (heute Winarskystraße). Am 14. Dezember 1930 heiratete er Katharina Perger, knapp drei Monate später kam Tochter Wilhelmine zur Welt. 1932 übersiedelte die Familie in die Sieveringer Straße nach Wien-Döbling. Karas befand sich damit in der Nähe seiner beruflichen Wirkungsstätten. Vor allem der ebenfalls in der Sieveringer Straße gelegene Heurige Martinkovits sollte in den kommenden Jahren zu seinem Stammlokal werden - und zum Sprungbrett für seine Karriere.

Doch zunächst kamen die Kriegsjahre. Von 1939 bis 1945 diente Karas in der Wehrmacht. Dabei war er unter anderem in Deutschland und Russland bei der Fliegerabwehr stationiert. Seine Zither hatte er auch hier stets dabei, wie mehrere Fotos belegen. Wieder in Wien, war es angeblich beim Martinkovits, wo Karas im Oktober 1948 vom britischen Filmregisseur Carol Reed entdeckt wurde, der für seinen Film "Der dritte Mann" eine passende Begleitmusik suchte. Um diese erste Begegnung zwischen Reed und Karas ranken sich bis heute, wie die Historikerin Brigitte Timmermann jüngst analysierte, zahlreiche Legenden und unterschiedlichste Versionen. Fest steht, dass Reed von den Darbietungen des Heurigenmusikers fasziniert war, und es gelang ihm, den zögerlichen Karas zu Studioaufnahmen nach London zu holen.

In den Korda-Studios wurde die Musik sodann dem stets heimwehkranken Karas geradezu abgezwungen. Bis zu 14 Stunden täglich musste er sich die Rohfassung des Films ansehen und dazu so lange improvisieren, bis Regisseur und Aufnahmeleitung zufrieden waren. Dabei waren Karas' musiktheoretische Kenntnisse bescheiden. Er spielte stets aus dem Gedächtnis. Ein eigenes Musikstück hatte er bis dahin noch nie komponiert, verstand er sich doch in erster Linie als Interpret.

So rang sich Karas mühsam das "Harry-Lime-Thema" ab, auf seiner einfachen, aus Wien mitgebrachten Zither - und trug damit wesentlich zum Erfolg des Films bei. "Das war eine Explosion, das war meine Sternstunde! Ich wusste, dass mir niemals wieder ein solcher Wurf gelingen wird", erinnerte er sich später. Schon in England fanden die Grammofonplatten, die unmittelbar nach der Londoner Premiere des Films gepresst wurden, reißenden Absatz. Nach überwältigenden Publikums- und Kritikerreaktionen in ganz Europa kam der Film 1950 auch nach Österreich. Die Premiere fand am 10. März im Wiener Apollo-Kino statt. Entgegen der bisherigen Begeisterung zeigten sich in Wien jedoch deutlich kritischere, sogar ablehnende Stimmen. Dabei war es vor allem das Bild der zerschundenen und zerstörten Stadt, das viele für verzerrt und "nicht eigentlich typisch" hielten. Während man im Ausland lobte, dass der "ganze Postkartenkitsch" endlich einmal verschwunden sei und "an Stelle der schönen blauen Donau die Abwässer der Kloaken rauschen", sahen die österreichischen Kritiker nicht selten ihre patriotischen Gefühle verletzt.

Einzige Ausnahme und über jeden Zweifel erhaben: die aus heimischer Produktion stammende Filmmusik. "Der Sieveringer Zithervirtuose hat den Streifen kompositorisch untermalt und ersetzt mit seinem Instrument wirkungsvoll ein Orchester. Er beherrscht die Zither mit einer Virtuosität, die aller Anerkennung würdig ist", jubelte "Die Presse" am 11. März 1950.

Schon die Premierentournee zum Film, die Karas 1949 nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz führte, war ein gewaltiger Erfolg. Gleich zweimal wöchentlich war er daraufhin Stargast im noblen Londoner Empress Club, wo ihn Prinzessin Margaret persönlich zum Vorspielen einlud. Nach der erfolgreichen New Yorker Filmpremiere startete Karas in den USA eine 37-wöchige Tournee. Es folgten Auftritte vor der niederländischen Königin, vor dem schwedischen Königshaus und vor Papst Pius XII. Als Karas im Juli 1950 nach Wien zurückkehrte, war er ein international anerkannter Star, der am Flughafen Schwechat von Bundeskanzler Leopold Figl und weiteren Regierungsmitgliedern empfangen wurde.

Das "Harry-Lime-Thema" avancierte zum Evergreen, zur Kennmelodie des Nachkriegs-Wiens. Unzählige Versionen des Originals überfluteten den Musikmarkt, von Guy Lombardo bis zu den Beatles - sie alle erlagen dem "Harry-Lime-Fieber". Karas selbst sah sich allerdings weniger gerne in der Rolle des glamourösen Stars, mit all den dazugehörigen sozialen Verpflichtungen, den unzähligen Interviews, Fernseh- und Radioauftritten. Er sehnte sich danach, wieder ausschließlich Musiker sein zu können und vor seinem geliebten Wiener Publikum zu spielen. "Ich habe mich niemals als Star gefühlt. Ich bin überall vergöttert worden, aber mein einziger Wunsch war immer nach Hause", wird er später im Radio erzählen.

1954 eröffnete Karas in Sievering ein eigenes Heurigenlokal: die "Weinschenke Zum dritten Mann". Hier konzertierte er fortan regelmäßig, sodass die Adresse Sieveringer Straße 173 bald zum touristischen Hotspot avancierte. Vor allem ausländische Gäste fanden sich ein - und zahlreiche Prominente aus der Filmbranche wie Orson Welles, Gina Lollobrigida oder Curd Jürgens. Die enorme Publicity seines Lokals wurde für Karas mit den Jahren zunehmend zur Belastung. Er spielte lieber vor einheimischem Publikum und kleineren Runden, weshalb er den Heurigen 1966 wieder aufgab.

All die Jahre über hatte er die eine Melodie wieder und wieder gespielt, in seinem eigenen Lokal, später auch in den Brathendl-Stationen des "Wienerwald"-Konzerns, dessen Eigentümer, Friedrich Jahn, ein persönlicher Freund war. Zwar hatte Karas auch noch eine Handvoll anderer Zitherstücke komponiert, der unbestrittene, vom Publikum immer wieder verlangte Hit aber blieb das "Harry-Lime-Thema".

Im Jahre 1973, während einer Österreich-Woche in London, wurde ein einmaliger Rekord aufgestellt: Karas intonierte seine Melodie zum 75.000. Mal. Längst war er zum Aushängeschild der Stadt geworden. 1976, zu seinem 70. Geburtstag, wurde er denn auch mit dem "Goldenen Verdienstzeichen des Landes Wien" geehrt, eine Wiener Zeitung verlieh ihm aus diesem Anlass gar den Titel "Caruso unter den Heurigenmusikern". Die Geburtstagsfeier fand - wie konnte es anders sein - beim Martinkovits statt.

Neun Jahre später, am 10. Jänner 1985, starb Karas im Alter von 78 Jahren nach längerem Leiden in einem Wiener Krankenhaus. Unter den Klängen des "Harry-Lime-Themas" wurde er am Sieveringer Friedhof beigesetzt. Seine Original-Zither, die die Wende in seinem Leben gebracht hatte, nahm er mit ins Grab.

Fragt man heute, mit historischem Abstand, nach den tiefer gehenden Ursachen für den überwältigenden Erfolg von Karas' Musik, lässt sich auch eine wesentliche, kulturell-symbolisch determinierte Komponente feststellen: das nach 1945 erfolgreiche Wiederanknüpfen an den Mythos "Musikstadt Wien". Als identitätsstiftende und (scheinbar) unpolitische Kunstgattung bot sich die Musik an, die Gräuel der jüngsten Vergangenheit in den Hintergrund zu drängen und den Fokus wieder auf die kulturelle Bestimmung Wiens zu richten.

Mit Karas' Erfolg konnte Wien seine auch im 20. Jahrhundert ungebrochene musikalische Produktivität beweisen. Zudem passte Karas von seiner Persönlichkeit her ideal in das Klischee des gemütlich beim Heurigen sitzenden Wieners. Schon 1950 resümierte eine Zeitung voll Stolz: "Der Wiener Heurigenmusiker hat mit seiner Zither das Interesse der Welt wieder auf Wien gelenkt." [*]

Am 4. Juli, 10 Uhr, wird an Karas' Geburtshaus, Wien XX, Leystraße 46, eine Gedenktafel enthüllt. Am 7. Juli konzertiert Hannelore Laister mit ihrem "Zitherlehrerquartett" im Amtshaus Brigittenau (Wien XX, Brigittaplatz 1). Ab 13. September ist in der Gebietsbetreuung Brigittenau (Karl-Meißl-Straße 1) die Ausstellung "Anton Karas - Leben und Werk" zu sehen.

Jahrgang 1962. Freier Historiker und Stadtforscher in Wien. MMag. Dr. phil. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte, Sinnesgeschichte. Diverse Publikationen u. a. "Unentbehrliche Requisiten der Großstadt - Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien" (Löcker Verlag).

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