Das Kind im Keller

Der Wiener Heinrich Ehlers verbrachte als Kind sechs Jahre in einem düsteren Kellerversteck. Noch heute hat er eine tiefe Abneigung gegen geschlossene Räume. Und jüngst erschrak er bei den Berichten zum Fall Kampusch: Seit seiner Mechaniker-Lehrzeit war Ehlers mit Wolfgang Priklopils Vater befreundet.

Zwei Kellerräume, jeder acht Quadratmeter, dazwischen eine Tür mit Glasfenster, in einem großen bürgerlichen Haus in der Zeindl- hofergasse in Wien-Margareten. Im ersten Raum eine Kochgelegenheit, ein Bett, ein Wäschekästen. Im zweiten ein Kasten, zwei Betten, ein Tisch. Am Gang davor ein Klosett und ein Wasserhahn. Von der Decke hängen zwei Drähte mit einer schwachen Glühbirne. Zwei schmale, gusseisern verkleidete Schlitze gehen auf die Gasse hinaus, von Decken dicht verhängt. In diesem Keller hat Heinrich Ehlers, geboren 1939, die ersten sechs Jahre seines Lebens verbracht, gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Großmutter, seinem Bruder Erich und seiner Schwester Hermine, 1940 und 1944 geboren. Sie waren U-Boote, Kellerkinder, aufgewachsen in Dunkelheit, ohne Sonne, ohne Licht. Als die Kinder im April 1945 aus dem Keller auftauchten, wussten sie nicht, wie sich Schnee und Regen auf dem Gesicht anfühlen, wie es ist, im Gras herumzulaufen, sich vom Wind treiben zu lassen, wie die Sonne am Morgen und am Abend aussieht, wie die Welt aussieht.

Sie teilten dieses Schicksal mit Kindern in fast ganz Europa. Überall, wo die Nationalsozialisten ihre Herrschaft errichteten und anfingen, die Juden zu jagen, verschwanden Kinder in den Untergrund. Wenn sie Glück hatten und falsche Papiere, nahm sie ein Kloster, eine Pflegefamilie, ein Wanderzirkus auf. Sie überstanden die Verfolgung in Verschlägen, Dachböden, Schrebergärten, oder sie wurden verraten und umgebracht, wie Anne Frank, deren Tagebuch das Leben im Verborgenen beschreibt. Aber nur wenige Kinder wurden in die Dunkelheit hineingeboren und überlebten jahrelang im düsteren Versteck. Heinrich Ehlers hat bis heute eine tiefe Abneigung gegen geschlosse- ne Räume; Keller, dunkle Gänge und Aufzüge lösen Beklemmungen aus. Er lebt mit seiner Frau in einem ausgebauten Gartenhaus im zehnten Wiener Bezirk, am liebsten ist er draußen im Garten oder unterwegs. In einem Zimmer mit geschlossenen Türen kann er nicht schlafen. - Als er im Juni 1939 auf die Welt kommt, ist Heinrich Ehlers' Vater bereits untergetaucht. Der hat eine alte Mutter und liebt eine junge Frau, die nicht jüdisch ist und von ihm schwanger; eine Flucht zu dritt ist unmöglich. Er ist einer der wenigen, die zu diesem frühen Zeitpunkt, noch vor dem Krieg, ein Versteck einrichten. Keiner kann sagen, wie lange man dort auszuharren haben wird. Keiner kann sich vorstellen, dass es sechs lange Jahre sein werden. Er hat bisher ein geselliges, betriebsames Leben geführt: Eine kleine Werkstatt, in der er gemeinsam mit seinem Onkel feine Lederwaren herstellt, und dann ist er auch Musiker, Geiger, spielt in einem Orchester und in einem Caf© im Wiener Prater. Dort lernt er 1938, kurz vor dem "Anschluss", Adele Brüll kennen. Es ist eine große Liebe, sie wollen heiraten, er ist 38, sie 30, aber sie lassen sich zu viel Zeit. Bald darauf stürzt seine Welt ein: Die Werkstatt wird geplündert, sein Onkel verhaftet und später deportiert.

Ehlers wird von der Gestapo ins Hauptquartier auf dem Morzinplatz gebracht, kann mit Hilfe eines Schulfreundes flüchten und beschließt, sich und seine Mutter zu verstecken. Auch Adele trifft einen Entschluss: Sie wird sich nicht von ihm trennen. Sie ist eine Hausgehilfin aus Niederösterreich, aus einem kleinen Nest bei Zwentendorf, katholisch, lebt schon seit vielen Jahren in Wien, durchwegs bei jüdischen Familien, kennt alle Bräuche, und sie war schon damals, wie ihr Sohn Heinrich erzählt, jüdischer als sein Vater. Sie ist es, die die Kellerwohnung mietet. Diese Kellerwohnungen gab es in ganz Wien, primitiv eingerichtet, feucht und dumpf, mit wenig Licht und kleinen Fenstern, durch die man auf die Füße der Vorbeigehenden schaute. Vater Ehlers und dessen Mutter halten sich dort illegal auf. Adele bringt ihren Sohn Heinrich wie auch die beiden anderen Kinder in ei- nem öffentlichen Spital zur Welt, und dann verschwinden sie im Keller.

Heinrich wächst in einem Klima aus Sorge, Angst, Kontrolle, Isolation und unterdrückten Spannungen auf. Immer wieder gibt es schwere Konflikte unter den Erwachsenen. Von draußen darf niemand ahnen, dass hinter den schmalen Sehschlitzen Menschen wohnen. Schräg gegenüber befindet sich ein Haus der Hitlerjugend, dauernd laufen weiße Stutzen vor den Fenstern hin und her, in der Gasse wird auch exerziert. Das ist der Grund, warum die Kinder strikt angehalten werden, keinen Lärm zu machen. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, denn sie sollen nicht auffallen - die Eltern haben Angst, dass die kleinen Kinder den Vater und die Oma verraten. Sie hätten ein anderes, normales Leben führen können, sofern man unter Kriegsumständen normal leben kann, hätte sich die Mutter anders entschieden. So aber führen sie das Leben von möglichst Unsichtbaren, Unhörbaren. Sie dürfen nicht laut sein, nicht weinen, nicht schreien, sich nur wenig bewegen, ohne dass sie erfahren, warum. Wenn einer zu heulen begann, sagt Heinrich, sind die Eltern schon da gewesen und haben uns den Mund zugehalten. Die Kinder wissen nur, dass der Vater und die Großmutter in ständiger Gefahr sind - klopft jemand an die Tür, steigen die beiden in den Kasten, und die Mutter zieht einen Vorhang darüber.

Den Hausbewohnern kann man die U- Boote im Keller freilich nicht verheimlichen. Das ganze Haus spielt mit. Sechs Jahre lang halten alle Mietparteien dicht. Das ist das zweite große Wunder dieser Geschichte - neben dem, dass alle sechs Kellerbewohner überlebt haben. Die Kinder haben in den letzten Kriegsmonaten mit mehreren Familien im Haus Kontakt, und ihre Namen sollen hier auch genannt werden: Nahodil, Jonas, Slama, Neunteufel, Puchinger. Ein großes Naheverhältnis bestand zu den Hausbesorgern, dem Ehepaar Nahodil, streng katholischen Tschechen, die im Parterre wohnten und ein Auge auf die Leute hatten, die in den Keller hinunterwollten. Sie halfen mit Kleidung und Lebensmitteln und nahmen 1944, als Hermine geboren wurde, die kleine Schwester zu sich, sooft es ging. Wie war das möglich? Es waren halt anständige Leute, die hat es auch gegeben, sagt Ehlers, er sucht keine weiteren Erklärungen. Manchmal dürfen die beiden Buben in den Lichthof, aber nur kurz und ganz selten. Einmal, als Heinrich schwer lungenkrank wird, bringt ihn der Vater ins St.-Josefs-Kinderspital in der Kolschitzkygasse. Das Kind hat ja gültige Papiere, aber das Kind will nicht bleiben und schreit ununterbrochen und muss wenige Tage später wieder geholt werden. Als es mit dem Vater das Spital verlässt, fällt in den Trakt, wo es tagelang geschrien hatte, eine Bombe und äschert ihn ein. Die Welt draußen ist feindlich und grausam, voller Gefahren, und der Krieg hört erst an der Kellertüre auf. Der Keller war unsere ganze Welt, wir waren nichts anderes gewohnt, wir kannten nichts anderes, sagt Ehlers. Gespielt haben wir im Kohlenkeller, da konnten wir etwas herumlaufen, sonst sind wir in Wäschekörben gesessen, um zu spielen. Womit? Wir haben Eisenbahn gespielt oder anderes, was der Vater uns gezeichnet hat.

Der Vater bemüht sich, den Kindern die Welt ohne Krieg und Terror näherzubringen: Er malt Häuser, Bäume, Tiere, eine Eisenbahn, bastelt aus Buntpapier und Holz Spielzeug. Er erzählt ihnen Geschichten dazu, manchmal setzt er seiner Geige einen Dämpfer auf den Steg und spielt ihnen etwas vor. Es gibt einige alte Bücher mit Karikaturen im Keller, an die sich Ehlers erinnert, und es gibt auch ein Radio, das nur ganz leise gehört werden darf. Die Kinder zu beschäftigen ist aber nicht das größte Problem. Ein viel größeres ist der ständige Hunger. Den Kindern ist oft schlecht vor Hunger, manchmal bekommen sie tagelang nichts zu essen. Der Vater stellt kleine Lederwaren her und versucht, mit dem Erlös etwas Essbares aufzutreiben. Er hat sich angezogen, wie die Nazis damals herumgelaufen sind, sagt Ehlers, mit weißen Stutzen, Haferlschuhen, einer schwarzen Schnürlsamthose und einem braunen Hemd. Zweimal haben sie ihn fast erwischt.

Die Mutter, die die Familie mit großer Courage zusammenhält, lebt in ständiger Angst, er könnte nicht mehr zurückkehren. Ihre Nerven werden dünn. Die Großmutter, Henriette, versteht nicht, warum sie sich verstecken soll, sie lehnt Adele ab und besteht darauf, die religiösen Vorschriften und die Speisegesetze streng einzuhalten. Mehrmals muss sie mit Gewalt zurückgehalten werden, hinauszulaufen und der ganzen Situation ein Ende zu bereiten. Die Spannung entlädt sich in wilden Streitereien, einmal wirft Adele eine Milchflasche durch die Glastür zwischen den Zimmern, zweimal dreht sie das Gas auf, als der Vater lange nicht nach Hause kommt. Einmal haben Nachbarn das Gas gerochen und uns gefunden, sagt Ehlers, da waren wir schon ganz blau, und einmal rettete uns der Vater.

Im letzten Kriegswinter fallen die Bomben Tag und Nacht, und das, sagt Heinrich, war das Furchtbarste. Er bekommt Brechanfälle, wenn er den Kuckuck im Radio hört, der den nächsten Luftangriff ankündigt. Rundherum schlagen die Bomben ein, aber das Haus mit den U-Booten bleibt unangetastet. Im März 1945, als die Rote Armee bereits gegen das Stadtzentrum vordringt, drehen viele Leute durch, zeigen Menschen an, an denen sie jahrelang vorbeigeschaut haben, die SS holt noch eine Reihe von Versteckten aus Kellerwohnungen und Dachböden und erschießt sie. Vater Ehlers wird gewarnt. Die Familie flüchtet in eine Bombenruine, rundum wird geschossen, ein paar Ta- ge später ist alles vorbei. Als die Kinder endlich ans Tageslicht können, sehen sie zum ersten Mal die Stadt, die Welt im Frieden: überall Leichen, Pferdekadaver, Schutt, aufgerissene Straßen.

Es gibt ein Foto des siebenjährigen Heinrich auf seinem Ausweis, auf dem die Augen des Kindes von einer Nadel durchstochen sind. Kinder manipulieren ganz gerne an ihren Fotos herum, aber warum er sich damals die Augen im Ausweis, der sein Kellerrattendasein dokumentiert, schwer beschädigt hat, dass er aussieht, als wäre er blind, kann Ehlers heute nicht nachvollziehen. Es wird so etwas wie Selbstverstümmelung oder Selbsthass gewesen sein, sagt er. Ich habe nach dem Krieg empfindliche Augen gehabt und eine Sonnenbrille bekommen. Wir waren halt alle sehr geschwächt. Der Vater hat sich im Untergrund ein schweres Augenleiden zugezogen und nur ein Viertel seiner Sehkraft behalten, der Bruder hatte ein Nervenleiden, ich selbst war lungenkrank. 43 Familienangehörige sind deportiert und umgebracht worden.

Aber, sagt Heinrich, es wurde dann noch eine sehr schöne Kindheit. Die Familie ist aufs Land und später an den Wiener Stadtrand gezogen, und wir Kinder waren nur draußen, nur draußen. Es war eine große Befreiung, wir haben da erst richtig angefangen zu leben und sind nur in ein Haus gegangen, wenn wir unbedingt mussten. Ich bin jahrelang barfuß gelaufen, bis in die vierte Hauptschulklasse, obwohl das verboten war, weil mir der Kontakt zur Erde so angenehm war. Wir sind ziemlich wild aufgewachsen, mein Bruder und ich, waren große Raufer, und dass wir jahrelang im Keller gesessen sind, das haben wir einfach vergessen. Wir haben was anderes zu tun gehabt. Wir haben ja nicht einmal gewusst, wie Tiere aussehen, wie Hühner oder Kühe ausschauen. Das einzige Tier, das wir kannten, war unser Kater Tschitschi, der war auch ein U-Boot und hat mit uns überlebt. Und er war gut genährt, wahrscheinlich von den Ratten und Mäusen dort im Keller.

30 Jahre später fiel Heinrich Ehlers in eine schwere psychische Krise. Er litt schon als Kind unter Unruhe und Platzangst, aber nun konnte er kaum auf der Straße gehen, keinen Hauseingang ertragen, nicht mehr ruhig sitzen, kaum mehr Auto fahren, und er bekam schwere Depressionen. Nach einer mehrjährigen Psychotherapie ging es ihm wieder besser, aber er spürt die sechs Jahre im Keller bis heute.

Als er die ersten Bilder über die Flucht von Natascha Kampusch sieht, ist er schockiert, denn er kennt das Gesicht ihres Entführers. Wolfgang Priklopil sah seinem Vater Karl zum Verwechseln ähnlich, und mit dem war Ehlers seit seiner Lehrzeit als Automechaniker bei Gräf & Stift eng befreundet. Es war eine Männerfreundschaft, die bis zum frühen Tod von Karl Priklopil währte, ohne dass die Familien einander kannten.

Den Sohn hat Ehlers nur beim Begräbnis des Vaters gesehen. Das muss so an die 20 Jahre her sein, sagt er, und schon damals hat er dem Karl fast unheimlich ähnlich geschaut. Und auch jetzt, auf diesem Foto im Fernsehen - so hat der Karl ausgesehen, bevor er Krebs bekommen hat und gestorben ist. Und was mich noch mehr erschreckt, waren die Bilder von dieser schweren Tresortüre, mit der der Wolfgang Priklopil den Keller abgedichtet hat. Sofort ist die Panik in mir hochgestiegen. Weggeschlossen, hinter dieser Tür! Was wäre gewesen, wenn ihm was passiert wäre, wenn er einen Autounfall gehabt hätte? Das Mädel muss ständig Angst gehabt haben, dass er nicht mehr zurückkommt, jeden Tag. Sie wäre zugrunde gegangen, und sie muss das die ganze Zeit gewusst haben. Das geht mir nicht aus dem Kopf. Diese ständige Angst. Die Isolation. Sich nicht bewegen können. Diese endlosen Stunden, das Warten. Der Gedanke daran schnürt mir den Hals zu.

Hat Karl Priklopil gewusst, dass Heinrich sechs Jahre im Keller verbracht hat?

Ja, sagt er, das hat er gewusst. Ob er seinem Sohn Wolfgang davon erzählt hat? Nein, sagt er, das glaubt er nicht. Das ist alles ein Zufall. So wie es auch ein Zufall war, dass die Bombe wenige Minuten später auf den Trakt im Kinderspital fiel, nachdem ihn sein Vater dort abgeholt hatte.

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