Die Nackten von Wien

Sie stehen auf offener Straße, spärlich bekleidet oder gar hüllenlos, Brüste, Schenkel und Scham den vorbeieilenden Passanten zugewandt. Doch keiner beachtet sie. Wie Bauch, Bein, Po auf Wiens Fassaden kamen.

Seit einiger Zeit beobachte ich die Nackten von Wien. Sie stehen auf offener Straße herum. Die spärlich bekleideten oder gar hüllenlosen Männer und Frauen haben Brüste, Schenkel und Scham den vorbeieilenden Passanten zugewandt. Ihr Hinterteil drücken sie an die Mauern. In dieser Pose bevölkern sie in großer Zahl die Stadt. Aber Aufsehen erregen sie nicht. Niemand bleibt vor ihnen stehen, kaum jemand nimmt von ihnen Notiz, von Empörung kann keine Rede sein.

Vor einer Hauswand am Wiener Graben bleibe ich öfter stehen. Zwei Frauen stehen hier am Eck. Ihre Körper sind in feine Seide gehüllt und lasziv der Straße zugewandt. So stehen sie da: überlebensgroß, unbeweglich und mit heiterer, zugleich versteinerter Miene. Sie sind mit der Fassade eins geworden. Auf ihren Häuptern tragen sie stolz und mühelos schwere Lasten. Das ganze Haus scheint auf ihnen zu ruhen.

Die beiden Gestalten haben zahlreiche Gefährten und Gefährtinnen in der ganzen Stadt. Aber auch sie erregen kein Aufsehen. Ihr Schicksal ist es, übersehen zu werden. Das verbindet sie mit den "großen" Denkmälern auf offener Straße, deren auffallendste Eigenschaft es nach Robert Musil ist, unbemerkt zu bleiben. "Es gibt," schreibt Musil, "nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler, sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden; ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Wassertropfen-auf Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehen zu bleiben."

Anders aber als die Standbilder, die mitunter gar mitten auf der Straße herumstehen, erinnern die Figuren an den Wänden an keine toten Helden oder große Patrioten, sie sind nicht mit Blumen oder Grün umgeben. Sie sind nicht geschmückt, und keine Schulklassen werden vor ihnen in Aufstellung gebracht. Reisebustouristen werden niemals dazu angehalten, diese steinernen Erinnerungszeichen zu bestaunen. Es handelt sich um anonyme Statuen, ohne Namen, ohne Beschriftung.

Diese nackten oder halbnackten Gestalten sind aber, auch das unterscheidet sie von "richtigen" Denkmälern, nicht einfach nur da. Sie arbeiten hart. Die allermeisten von ihnen verrichten ihr Werk als Lastenträger. Sie stützen schwere Säulen, sie stemmen Erker und Vorbauten in die Höhe. Sie setzen ihre Körper mit aller Kraft gegen die Macht der Schwerkraft ein. Manche von ihnen sind eingespannt zwischen zwei Säulen oder Decken, andere entwachsen auf der Höhe der Hüfte elegant der Fassade, schälen sich aus einem beiläufig gefalteten Tuch, um aus der Schwerelosigkeit heraus mit dem Oberkörper dem Gewicht des Gebäudes Einhalt zu gebieten. Wieder andere winden sich kunstvoll aus den Blütenranken eines Kapitells oder münden ein in dieses. Sie drücken sich verschämt in eine Nische oder treten selbstbewusst an einer Mauerecke hervor.

Ihre Arbeit verrichten sie mit so gut wie allen Körperteilen. Der Kopf trägt Säulen und Halbsäulen, auf ihren Schultern ruhen schwere Aufbauten, ihre Füße stehen auf Söckelchen und Stufen. Und auch die Hände sind, wenn sie nicht lässig in die Hüfte gelegt oder angewinkelt über dem Kopf verschränkt sind, eingespannt in den Kampf mit der Schwerkraft. Sie stemmen sich kraftvoll gegen den bloßen Stein. Derart unter Druck gesetzt, beugen sich die Rücken der männlichen Gestalten, nicht selten gehen sie in die Knie. Während die männlichen Muskeln hervortreten, stehen die Frauen meist aufrecht, sie lassen sich ihre Mühe nicht anmerken.

Es fällt auf: Frauen sind in der Gruppe der Fassadenträger in der Mehrzahl. Während die Männer sich zu ebener Erde oder höchstens im ersten Stock um die Stabilität des Gebäudes bemühen, machen sich die Frauen und Kinder - diese oft in Gestalt verspielter Putti - in luftigen Höhen und bis hinauf unters Dach zu schaffen. Die Arbeit des Aufrichtens, Stützens und Hebens aber verwandelt die Körper dieser tragenden Figuren keineswegs in geschundene Existenzen. Nie wird ihr Blick starr unter den schweren Lasten. Es scheint fast so, als ob die Träger heiterer wären, je mehr Gewicht auf ihnen lastet. Wohin ich auch schaue entlang der Fassaden dieser Stadt: Nirgends blickt mir Mühsal entgegen. Die nackten Körper tragen ihr Gewicht mit Leichtigkeit. Sie sind keine arbeitenden Gestalten, sondern sonnige Charaktere, die die Kunst des Müßiggangs beherrschen. Hier erspähe ich eine kokette Geste einer Frauenfigur auf halber Höhe der Fassade hin zu ihrer Gefährtin neben ihr, dort entdecke ich eine schelmische Bewegung einer anderen ums Hauseck.

Als Sergej Eisenstein, der russische Filmemacher und Theoretiker, sich in seinen Memoiren an seine Kindheit in Riga erinnerte, fielen ihm die Fassadenfiguren seines Elternhauses ein. Und er setzte diese Jungfrauen zunächst in Bewegung wie die Figuren eines Tanzes: "Wenn aus den Fassaden Arme herausragen würden, könnten sich die Hände anfassen wie zum Tanze, zur Quadrille, und die Droschken wären jene Paare, die unter den erhobenen Händen der auf der Stelle Tanzenden hindurchtauchen." Dieser harmonische Tanz war ein Wunschtraum. Und dennoch faszinierten ihn diese nutzlosen Figuren. Rückblickend wurden sie sogar zu Projektionsflächen seiner sexuellen Initiation. "Die Jungfern an Papachens Fassade sind oben und unten verstöpselt. Und die Regengüsse peitschen ihre Scheitel, weil sie nicht in sie eindringen, nicht durch ihren Körper hindurchgehen, nicht in die Gullys unten stürzen können. Da rinnt der eigensinnige Regen an ihnen herunter. Betastet mit seinen Wassern - wie mit lebendigen Händen - die Umrisse der Figur. Wie Inseln ragen die Brüste aus den Wasserströmen hervor. Dunkle Bäche rinnen vom Bauch herab. Regen. Regen. Und seine flüchtigen Berührungen bleiben als dunkel gewalttätige Spuren auf dem falschen Alabaster dieser athletischen und sinnlos aufgestellten Figuren."

Riga, Budapest, Wien. Die Reihe der Städte ließe sich fortsetzen. Die Architektur des Historismus und der Gründerzeit hat weite Kreise gezogen. In Städten wie diesen, deren heutiges Gesicht der Innenstädte zu einem Gutteil auf den gewaltigen Bauboom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht, blicken die Lastenträger des wirtschaftlichen Aufbruchs nun schon seit über einem Jahrhundert herab auf die Straße. Die Epoche, in der die Fassadenfiguren so zahlreich ihren Platz fanden, umspannt einige wenige Jahrzehnte: in Wien etwa von 1860 bis zum Ersten Weltkrieg.

Die Figuren rühren aus einer Schwellenzeit: Die Welt von gestern sollte dahinter verborgen bleiben, die Welt von morgen war noch nicht angebrochen. Die Fassaden der Gründerzeitarchitektur bauten sich mit ihrer dekorativen Tünche auch vor dem sozialen Elend der Stadt auf, sie verdeckt die Armseligkeit des Wiener Mietshauses. Um 1910 hatten in Wien nur sieben Prozent der Mietshäuser Bad und Toilette, die Miete machte rund ein Viertel eines Arbeiterlohns aus.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende verlangte die bürgerliche Stadt nach viel Platz, 1890 wurde die Stadtgrenze über den Gürtel hinaus ausgedehnt. Diese bürgerliche Selbstbehauptung in der Architektur stellte sich dar als ein Kampf in zwei Richtungen, gegen die alten Ansprüche des höfisch dominierten Bezirks im Zentrum der Stadt und gegen die Welt der Mietskasernen an der Peripherie. Diese Architektur setzte auf moderne Bauweise und auf den Zierrat der Fassade. Auf nüchterne Grundrisse wie auf straßenseitiges Blendwerk.

Die Figuren an den Wiener Hauswänden sind das Produkt dieses Spagats zwischen architektonischem Außen- und Innenleben. Bei aller Kunstfertigkeit, die sie zur Schau stellen, huldigen sie letztlich nicht dem Künstlergenie, sondern dem bürgerlichen Geschäftsgedanken. Ihre künstlerischen Anleihen stammen nicht von der Kirche, auch nicht vom Hof. Oft sind sie dem Barock entlehnt, oder sie wurden aus der Antike oder einer exotischen Fantasiewelt herbeigeholt.

Die Fassadenfiguren treten auf die Bühne der Straße als namenlose Göttinnen oder säkularisierte Götter, als gute Wilde oder als unschuldige Kinder. Sie sind eingefügt als gefälliges Dekor, das je nach Anspruch und Geldbeutel etwas mehr "hermacht" oder etwas weniger. Sie geben vor zu tragen und kaschieren das wahre Gerüst der Gebäude, das - oft verschämt in ihrem Rücken - aus Ziegelwänden und längst auch schon aus Stahl und Glas besteht.

Man muss sich diese Figuren aber letztlich als architektonische Massenware vorstellen. Große Baufirmen boten diese Gestalten in eigenen Katalogen an. Hier fanden die Baumeister die Unterschiede in Serie. Die Nackten variieren in Größe, Üppigkeit, Gewicht, Material und Ausdruck erheblich. Aber das Repertoire ihrer Gesten ist überschaubar. Wären sie Zeitgenossen, wäre ihr Platz vermutlich der gehobene Baumarkt.

Manchen dieser Gestalten ist ihre mittlerweile einhundertjährige Geschichte deutlich anzumerken, die Abgaswolken, die Tag für Tag um ihre Gesichter streichen, haben ihren Körpern zugesetzt. Im Ballett gegen die Schwerkraft tanzen einige steinerne Invaliden mit, die, aufgrund ihrer billigen Bauweise, kaum auf Linderung ihrer Leiden hoffen dürfen.

Aber die Putti und Jungfrauen außen stützen ohnehin eine Welt, die heute keine Entsprechung mehr hat hinter den Türen und Fenstern. Die Fassadenfiguren von Wien sehen zwar manches, aber was in den Häusern geschah und geschieht, davon können sie nichts berichten. Sie blicken unverwandt in eine Richtung, dorthin, wo niemand sie beachtet, auf die Straße nämlich.

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