Flanieren an der Autobahn

Zuerst kam der Wiener Lassallestraße der Nordbahnhof abhanden, dann stürzte vor 30 Jahren die Reichsbrücke ein - und heute erstickt sie im Durchzugsverkehr: Chronologie eines Niedergangs.

Obwohl der Nordbahnhof im März 1945 durch alliierte Bombenan griffe schwere Schäden erlitten hatte, obwohl die Eisenbahnbrücken über die Donau noch in den letzten Kriegstagen von der Wehrmacht gesprengt worden waren, ahnte damals noch niemand, dass der prunkvollste und zu Kaisers Zeiten bedeutendste Bahnhof Wiens seinen Betrieb nicht wieder aufnehmen würde. Als sich aber zeigte, dass die Verbindungen nach Brünn, Prag, Krakau und Warschau aus ganz anderen als eisenbahntechnischen Gründen eingestellt werden mussten, fand man sich in Wien mit dem Brachfallen des historistischen Stationsgebäudes ab. Dabei wäre es durchaus machbar gewesen, den für das Stadtbild prägenden Bahnhof - 1865 von Salomon Rothschild aus privaten Mitteln finanziert und nach dem abgedankten Kaiser Ferdinand benannt - wieder instand zu setzen.

Doch entschieden sich die Österreichischen Bundesbahnen für den Neubau eines kleinen Schnellbahnhofs direkt am Praterstern - der seit 2004, weil den Bahnkunden nicht mehr zumutbar, abgetragen wird. Und sie schufen gleich daneben ein modernes, inzwischen unansehnliches Bürohochhaus für ihre Verwaltung - die in wenigen Jahren in ein repräsentativeres Gebäude am künftigen Zentralbahnhof umziehen wird. Der alte Nordbahnhof hingegen diente noch einige Male als Kulisse für k. u. k.-Filme, ehe er im Jahr 1965 zum Abriss freigegeben wurde. Fortan breitete sich inmitten der Wiener Leopoldstadt - zwischen der Nordbahnstraße mit dem dahinter liegenden Volkertviertel und der Lassallestraße mit dem dahinter liegenden Stuwerviertel - eine 75 Hektar große Brachfläche aus, zumal das Areal für die ÖBB ab den Sechzigerjahren auch als Frachtenbahnhof kaum noch Bedeutung hatte.

Mit dem Nordbahnhof verlor die Lassallestraße, die ohnehin nur aus einer Straßenhälfte bestand (die linke Seite bildete die Umfassungsmauer des Bahnhofareals), einen wichtigen Kundenmagneten - und rückte etwas ins Abseits der gesamtstädtischen Wahrnehmung. "Aufmerksamkeit erregte die Lassallestraße nur mehr, wenn am Bahngelände wieder einmal ein Toter gefunden wurde", erinnert sich Helmut Böhmert, Optikermeister im Haus Nummer 10-12 - der, wie alle Alteingesessen, das "e" von "Lassalle" recht unfranzösisch betont. Ihre Bedeutung als Geschäftsstraße behielt die - im Roten Wien nach dem Arbeiterführer Ferdinand Lassalle benannte - Verbindung zwischen Praterstern und Reichsbrücke dennoch, dank des Bevölkerungszuwachses in Floridsdorf und in der Donaustadt. Die Bewohner der transdanubischen Stadterweiterungsgebiete fuhren - ob per Auto, ob per Straßenbahn - mehrheitlich über die Reichsbrücke und somit durch die Lassallestraße zum Arbeiten oder Einkaufen in die inneren Bezirke.

Dies änderte sich schlagartig am 1. August 1976 - einem Datum, das wie kaum ein anderes in das kollektive Gedächtnis der (älteren) Österreicher Eingang gefunden hat: Denn am selben Tag, als Formel-1-Weltmeister Niki Lauda auf dem Nürburgring verunglückte, stürzte ebenso überraschend auch die Wiener Reichsbrücke ein.

Die imposante Kettenbrücke mit ihren vier Fahrspuren und zwei Straßenbahngleisen, die 1937 als Arbeitsbeschaffungsprojekt des Ständestaats die alte Reichsbrücke - vormals Kronprinz-Rudolf-Brücke - ersetzt hatte, trug Mitte der Siebziergjahre in Spitzenstunden 2000 Autos und Dutzende Tramways über die Donau. Ihr Einsturz wäre mit Sicherheit um vieles tragischer verlaufen, hätte er sich nicht sonntags um 4.43 Uhr ereignet. So beschränkte sich die Opferbilanz auf den Tod eines Kraftfahrers, auf den Rücktritt des Wiener Planungs- und Verkehrsstadtrats Fritz Hofmann - sowie auf eine Hauptstraße, die über Nacht zur Sackgasse wurde. "Mit dem Einsturz der Reichsbrücke blieben auch die Kunden aus dem 21. und 22. Bezirk weg - und kamen nicht mehr wieder", weiß Helmut Böhmert noch gut. Zwar hatte man schon bald zwei Notbrücken für Autos und Straßenbahnen errichtet - doch wurde im Zuge des Neubaus der Reichsbrücke auch die U-Bahn-Linie 1 über die Donau verlängert, weshalb die Lassallestraße zwei Jahre lang aufgegraben war.

Dazu kam, dass zu dieser Zeit das Donauzentrum, Wiens größtes Shoppingcenter, in der Wagramer Straße, der direkten Fortsetzung der Lassallestraße, seine Tore öffnete - und die zeitweilige Mobilitätseinschränkung der Transdanubier zu nutzen wusste. Als dann nach Fertigstellung der neuen sechsspurigen Spannbetonbrücke samt U-Bahn-Trasse auch noch die verbliebenen drei Tramway-Linien nach Stadlau, Leopoldau und Kaisermühlen eingestellt wurden, war für Optiker Böhmert klar, dass die Einzelhandelsstruktur der Lassallestraße nicht mehr aufrechtzuerhalten war: "Die Fachgeschäfte für Möbel, Sportartikel und Lederwaren, die Drogerie, der Fotohändler, der Uhrmacher und auch die Lebensmittelläden, die wir hier hatten, haben Anfang der Achtzigerjahre alle zugesperrt. Sind die Straßenbahnen früher an unseren Auslagen vorbeigefahren und alle 300 Meter stehen geblieben, so fuhr die U-Bahn jetzt unter der Lassallestraße durch." Auch Böhmert, der letzte verbliebene Geschäftsmann aus dieser Zeit, hat schon lange keine Laufkundschaften mehr - und kann seinen Laden nur dank der Stammkunden aus ganz Wien am Leben erhalten.

Viele der kleinen Geschäftslokale wurden daraufhin von sowjetischen Juden - insbesondere aus Georgien und Armenien - übernommen, die ab Mitte der Siebzigerjahre ihr Land in mehreren Ausreisewellen verlassen durften. Schlomo Tzachvasvili etwa emigrierte mit seiner Familie zunächst nach Israel - wo allerdings weder die wirtschaftliche Lage noch das Klima und schon gar nicht die ständige Kriegsgefahr seinen Vorstellungen entsprachen. So beschlossen die Tzachvasvilis, in die USA auszuwandern, blieben aber, wie so viele Emigranten, unterwegs hängen - und zwar in Wien.

"Die Lassallestraße war aus mehreren Gründen für uns interessant", erzählt Schlomos Sohn, Murman. "Zum einen gab es im zweiten Bezirk auch nach dem Holocaust wieder Juden, die bereit waren, uns ihre Geschäftslokale zu überlassen - und zum anderen lebten hier im Stuwerviertel bereits viele Gastarbeiter aus Jugoslawien, deren Muttersprache uns anfänglich vertrauter war als das Deutsche. Ihre Zahlen klingen ähnlich wie die russischen - und mehr braucht man zum Handeln anfangs ja nicht."

Schlomo Tzachvasvili begann zunächst mit einem Textilgeschäft, wie viele seiner Landsleute aus dem Kaukasus - und austrifizierte sogar seinen Namen: Mitte der Achtzigerjahre ließ sich die gesamten Familie in Zach umbenennen - nicht ahnend, dass ihre Kunden schon bald nicht mehr aus Wien, sondern aus ganz Osteuropa kommen würden.

Denn 1988 setzte in der Lassallestraße ein ebenso wundersamer wie eigentümlicher Aufschwung ein, der dem steten Niedergang ein unverhofftes Ende zu bereiten schien. Als Vorboten der Ostöffnung kamen immer mehr osteuropäische Händler - respektive Schmuggler - nach Wien, das für die Donau-Anrainerstaaten flussabwärts das nächstgelegene Tor zur westlichen Konsumwelt darstellte.

Zunächst waren es die Besatzungsmitglieder der Handelsschiffe, die unweit der Reichsbrücke anlegten - und ebendort, am bald berühmt-berüchtigten Mexikoplatz, eine rege Informations-, Tausch- und Geldwechselbörse entstehen ließen. Schon bald erfasste dieser Handelsboom die gesamte Lassallestraße, deren Geschäftsleute dank ihrer Biografien ideale Partner für die Zwischenhändler aus Osteuropa waren: Wo sonst in Wien gab es eine Einkaufsstraße, in der Russisch als Lingua franca galt? Wo sonst in dieser Stadt konnten Slowaken, Bulgaren oder Ukrainer mit ihren nicht konvertierbaren Ersparnissen einkaufen?

Und nachdem Ende 1989 der Eiserne Vorhang gefallen war, strömten in den Folgejahren Hunderttausende Osteuropäer in die Lassallestraße - die zum billigen Pendant der Mariahilfer Straße wurde, wo die relativ wohlhabenden Ungarn in den frühen Neunzigerjahren ihre Konsumbedürfnisse stillten.

Das Warenangebot in der Lassallestraße passte sich in dieser Zeit oft im Halbjahresrhythmus der wechselnden Nachfrage an. So stellte Schlomo Zach, wie viele seiner Kollegen, auf Unterhaltungselektronik um, nachdem der erste Run auf Textilien vorbei war. Als auch der osteuropäische Markt für Radios, Fernsehgeräte und Videorecorder gesättigt schien, setzten er und sein Sohn - wiederum gefolgt von den meisten anderen Händlern - auf Uhren und Goldwaren. Und an der neu gestalteten Ladenfront stand in großen Lettern wieder der alte georgische Name - Tzachvasvili.

Während in anderen Einkaufsstraßen Wiens das Geschäftesterben für Leerstände sorgte, waren die - alles andere als gut ausgestatteten - Lokale in der Lassallestraße wahre Goldgruben, die nur um Unsummen ihre Besitzer wechselten. Mieten von 1000 Schilling pro Quadratmeter waren hier um 1990 keine Seltenheit - zusätzlich zu horrenden Ablösen. Oft gingen die Läden von der zweiten auf die dritte Generation jüdischer Emigranten über, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR nach Wien kamen - und sich wie selbstverständlich in der Lassallestraße niederlassen wollten.

Sogar Optiker Helmut Böhmert hatte Anteil an dieser Bonanza: "Am Mexikoplatz hatte sich herumgesprochen, dass es bei mir sogenannte Mostwaagen zur Ermittlung des Alkoholgehalts von Flüssigkeiten gab - worauf ich binnen kurzer Zeit so viele davon verkaufte, dass ich aus Deutschland welche nachbestellen musste."

Parallel zu diesem Aufschwung kam nach Jahrzehnten des Stillstands auch die gegenüberliegende Seite der Lassallestraße wieder in Bewegung. Zwar gab es für das Gelände des Nordbahnhofs seit langem Verbauungspläne, doch wurde bis 1989 nie etwas daraus. "Bereits Otto Wagner hatte in seinem Generalregulierungsplan von 1893 das Nordbahnhofareal reduziert, da es schon damals zu groß war", weiß der Stadtplanungsbeamte Peter Klopf. "In den Sechzigerjahren sah Roland Rainer auf diesem Standort ein zweites Zentrum zur Entlastung der Innenstadt vor, in den Siebzigerjahren gab es Überlegungen für ein neues Messegelände, im Zuge der Expo-Planungen dachte man an eine Gartenschau auf dem Areal - und Harry Glück wollte hier Terrassenhäuser in eine parkartige Landschaft setzen."

Erst mit dem planungspolitischen Willen, die Stadtentwicklung Wiens wieder stärker zur Donau hin zu orientieren, wurde Ende der Achtzigerjahre - der Idee einer städtebaulichen Achse vom ersten Bezirk über die Praterstraße, die Lassallestraße und die Reichsbrücke bis in die Wagramer Straße folgend - mit der Bebauung eines 700 Meter langen und 200 Meter breiten Streifens entlang der Lassallestraße begonnen.

Die Wiener Stadtplanung sah für die linke Straßenhälfte eine durchlässige Bebauung mit hohem Wohnanteil vor, um das Gebiet entsprechend zu beleben. Parallel zur Lassallestraße sollte eine Grünachse für Fußgänger und Radfahrer durch das Innere der Baublöcke führen. Und an der Straßenfront plante man eine durchgängige Geschäftszone unter Arkaden, großzügige Fußgängerbereiche zum Flanieren und mehrreihige Alleen, um die zentrale Verbindung zwischen Innenstadt und Donau in einen urbanen Boulevard zu verwandeln.

Was bis ins Jahr 2003 realisiert wurde, hat jedoch nur oberflächlich etwas mit diesen Plänen gemeinsam. Die Investoren erkannten das Potenzial des Standorts für großmaßstäbliche Büroimmobilien und errichteten vier Superblocks von jeweils rund 150 mal 150 Metern. Die leistungsfähige Verkehrserschließung durch die U1, aber auch durch die unmittelbare Nähe zur Donauuferautobahn sprachen ebenso für eine maximale kommerzielle Nutzung wie die Zentrumsnähe und die Weitläufigkeit des Bauplatzes. Die geplante Durchmischung mit rund 500 Wohnungen, zahlreichen Geschäften und vielfältiger Gastronomie wich damit dem Flächenanspruch heimischer wie ausländischer Konzernzentralen.

Von der angestrebten Durchlässigkeit, geschweige denn von der konzipierten Grünachse quer durch die Blockinnenbereiche, ist nichts geblieben. Im Gegenteil - die Bürokomplexe verschließen sich gegenüber ihrem Umfeld, auch wenn die repräsentativen Fassaden Öffnungen vortäuschen. Am Beginn der Lassallestraße entstand durch einen Rücksprung der OMV-Zentrale zwischen IBM-Gebäude und Bank Austria zwar ein ausgedehnter Platz - der allerdings mehr die Herrschaftlichkeit der ihn umgebenden Architektur zur Geltung bringt, als dass er die urbane Qualität des Quartiers fördern würde. Tagsüber werden die steinverkleideten Bauten von gepflegtem Rasen umrahmt, nachts von Scheinwerfern aus dem Dunkel gehoben - was das umliegende Viertel ebenso auf Distanz hält, wie das überdimensionierte Vorfeld entlang der gesamten Büromeile: An die drei Meter breiten, kaum frequentierten Arkaden schließen ein sechs Meter breiter Fußgängerbereich, ein Grünstreifen von sieben Metern, ein vier Meter breiter Geh- und Radweg sowie nochmals zwei Meter Grünstreifen an. Erst dann erreicht man die sechsspurige Fahrbahn der Lassallestraße.

Bei einer Gesamtbreite von mehr als 40 Metern verwundert es nicht, dass es so gut wie keine Querbeziehungen im Straßenraum gibt - abgesehen von den spätnachmittäglichen Autofahrten mancher Büroangestellter durchs Rotlichtmilieu des Stuwerviertels, die in den Tiefgaragen der modernen Headquarters enden. "Die Impulse der neuen Bebauung für die gegenüberliegende Straßenseite sind gleich null", attestiert auch Peter Klopf.

"Mehr denn je ist die Lassallestraße heute eher eine Durchzugsroute als ein urbaner Boulevard", so der Stadtplaner weiter. "Einerseits fehlen die Attraktionen, derentwegen es sich lohnen würde, mit dem Auto stehen zu bleiben - und andererseits animiert die Architektur der Neubauten mit ihren Großformen nachgerade zum schnelleren Durchfahren." Dass schlechter Urbanismus auch wirtschaftlichen Misserfolg zeitigt, beweisen Fluktuation und Leerstand in der Lassallestraße: Kurz nachdem der letzte Baublock, die Telekom-Austria-Zentrale, bezogen war, wurde der erste der Bürobauten, das IBM-Gebäude, von seinem Errichter bereits wieder aufgegeben - und auch die OMV wird demnächst abwandern. Das UCI-Kinozentrum mit seinen 2200 Sitzplätzen hatte lediglich drei Jahre lang Bestand - und steht nun schon ebenso lange leer. Als Hauptgrund dafür gibt der Entertainment-Konzern an, es mangle diesem Standort schlicht am entsprechenden Umfeld: Caf©s, Restaurants und Freizeiteinrichtungen könnten durch Büroangestellte allein eben nicht am Leben gehalten werden - zumal wenn diese morgens mit dem Auto in die Tiefgarage ihres Büros fahren, dort arbeiten und in der hauseigenen Kantine essen und abends wieder per Auto das Büro verlassen. Die mangelnde Bereitschaft der Investoren zu einer stärkeren funktionalen Durchmischung des Gebiets führte also wenig später dazu, dass eben diese Investoren wieder abwandern.

Dabei hätte die gründerzeitlich geprägte Seite der Lassallestraße dringend Impulse gebraucht - denn 1993 war der Handelsboom so unvermittelt, wie er gekommen war, auch wieder vorbei. "Als es unsere Waren auch im Osten uneingeschränkt zu kaufen gab, blieben die Kunden natürlich aus", erläutert Murman Zach, "und für die Angestellten der neuen Büros vis- -vis kamen die Läden hier herüben nie in Frage." So stellten die meisten Geschäftsleute der Lassallestraße auf Großhandel um. Im Fall der Familie Zach heißt das, einmal 1000 Billiguhren als Werbegeschenke in die Niederlande zu verkaufen oder ein andermal eine größere Mengen Schmuck und Kugelschreiber an Handelspartner in Russland zu liefern. Für die weniger agilen Händler in der Lassallestraße bedeutet "Großhandel" hingegen die kaum mehr berechtigte Hoffnung, dass eines Tages jemand kommt und ihnen die Waren, auf denen sie seit mittlerweile 13 Jahren sitzen, abnimmt.

70 Prozent Nachlass würde der Uhrenhändler in der Lassallestraße 20 gewähren, wenn man ihn endlich von seinem Sortiment befreit. Ein paar Schritte weiter schlagen zwei Männer in einem zu drei Viertel leeren Laden mit der Aufschrift "Modewaren - Waren aller Art" die Zeit neben einem Berg verpackten Kochgeschirrs tot. Viele würden nur deshalb weitermachen, so einer der beiden Großhändler, weil sie es nicht übers Herz brächten, die sechsstelligen (Schilling-)
Ablösen, die sie in den Boom-Jahren bezahlt haben, einfach so abzuschreiben.

Auf einer Länge von nur 500 Metern gibt es heute in der Lassallestraße allein sechs Uhrengeschäfte sowie vier Shops für Handy-Zubehör. Dazwischen finden sich unter anderem ein Laden für Tattoos und Bodypiercing, das Gasthaus "Promille Club" sowie ein Massageinstitut, dessen Kunden von der Krankenkasse keine Rückvergütung ihrer Therapiekosten erwarten. Aufschriften wie "Abverkauf" oder "Neuübernahme" zieren die zahlreichen leeren Schaufenster. Das einzige Geschäft neben Optik Böhmert, das tatsächlich gut gehen dürfte, ist der China-Shop mit seinem grotesken Sortiment aus Spielzeug, Haarschmuck, Brillen, und anderen "Trendartikeln".

Erst knapp vor der Reichsbrücke, wo die Lassallestraße für ein kurzes Stück auch linksseitig gründerzeitlich bebaut ist, sorgen zwei Bankfilialen und ein Sonnenstudio direkt an der U1-Station Vorgartenstraße sowie die Pizzeria "Nikita dal Russo" für eine gewisse Normalisierung der Geschäftsstruktur. "Die Stadt Wien kann den Handel in der Lassallestraße nur dann am Leben erhalten, wenn sie dem maroden Stuwerviertel auf die Sprünge hilft", ist Murman Zach überzeugt. "Denn wenn unsere Kunden nicht von dort herkommen, kommen sie von nirgendwo."

Wieweit die aktuellen Veränderungen im Umfeld Leben in die Lassallestraße bringen können, bleibt abzuwarten. Bis 2008 wird der neue S-Bahnhof am Praterstern fertiggestellt - und auch von der U2 erschlossen sein. Für den nahe gelegenen Prater gibt es Pläne zur Neustrukturierung und Aufwertung - und am Nordbahnhofgelände sollen hinter der bestehenden Büromeile bis 2010 weitere Büros, Geschäfte, Wohnungen, eine Schule und ein drei Hektar großer Park errichtet werden. Sogar an eine Verlängerung der Straßenbahnlinie O in dieses Neubauviertel ist gedacht. Ob die zweite Etappe der Nordbahnhofverbauung Besseres hervorbringen wird als die missglückte erste Etappe, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie konsequent die Planungspolitik dieses Mal gegenüber Bauträgern und Investoren auf der Umsetzung der urbanistischen Qualitätskriterien beharrt.

Zur Harmonisierung der linken und der rechten Seite der Lassallestraße wird aber noch so gute Architektur am Nordbahnhof wenig beitragen können, solange 50.000 Autos pro Tag - mehr als auf so mancher Autobahn - die beiden Straßenhälften trennen. "Vielleicht", meint Murman Zach halb im Spaß, halb ernst, "würde es uns ja helfen, wenn die Reichsbrücke wieder einmal für einige Zeit unpassierbar wäre."

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