Mein? Dein? Unser? Stifter!

Erläuterungen. Ergänzungen. Biografien. Liebesbriefe. Blumenschmuck. Paraphrasen. Missverständnisse und ihre Aufklärung. Mythen und Entmythisierungen. Die Stifter-Neuerscheinungen. Vorgestellt von der "Spectrum"-Redaktion.

ARNOLD STADLER: "MEIN STIFTER"

Und immer wieder das Messer. Das Rasiermesser, mit dem sich Adalbert Stifter im Jänner 1868 in die Halsschlagader geschnitten hat, weil er am Ende war - physisch und psychisch. Leberzirrhose ("Zehrfieber infolge chronischer Atrophie") steht auf dem Totenschein. Wozu also das Messer?, fragt Arnold Stadler. Es ist ein durchgängiges Motiv in seinem Buch "Mein Stifter". Das letzte erhaltene Foto von Stifter zeigt einen ausgezehrten Menschen mit verschränkten Händen und einem wartenden Blick nach oben. Irgendwann konnte er nicht mehr warten, glaubt Stadler. Deshalb das Messer. Stadler interpretiert das Werk und den Menschen Stifter von dessen Ende her. Sein Buch kann und will keine Biografie sein, auch wenn man über Stifters Leben viel erfährt. Entscheidender ist jedoch die sehr persönliche Interpretation von Stifters Werk, zuallererst des "Nachsommers". Arnold Stadler: "Mein Stifter - Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien" (198 S., geb., € 18,40; DuMont Verlag, Köln).

INNIGSTGELIEBTEST: STIFTERS LIEBESPOST.

"Geliebte teure Gattin!" "Geliebte teuerste Gattin!" "Teure Gattin!" "Geliebte Gattin!" "Geliebteste Gattin!" "Meine geliebteste meine teuerste Gattin!" "Meine innigst geliebte Gattin!" "Meine herzensgeliebte teure Gattin!" "Du meine herzgeliebteste teuerste Gattin!" "Meine innigstgeliebteste, teuerste Gattin!" Schließlich, ein halbes Jahr vor dem Tod: "Einzig teure Gattin!" Adalbert Stifters Briefe an seine Frau, Amalia, beginnen so, wie Briefe dieser Art halt so beginnen. "Abgesehen davon, dass auch Stifters Literatur stark durchsetzt ist von Formeln, beispielsweise der Sittlichkeit und der Würde, weiß ein jeder, der einmal geliebt hat, wie schwer es ist, Worte der Anrede für die oder den Geliebte(n) zu finden", notiert dazu Margit Schreiner im Vorwort zu dem von Günther Eisenhuber herausgegebenen Band "Adalbert Stifters Liebespost", der nicht nur Briefe an seine Frau (und seiner Frau an ihn), sondern auch Briefe an die frühe Geliebte, Fanny Greipl, vorstellt.
Günther Eisenhuber (Hrsg.): "Adalbert Stifters Liebespost - Von Liebesleid und Gattenglück" (188 S., geb., € 19,90; Residenz Verlag, Salzburg).

BUNTE STEINE, NEU AUFGELADEN.

Der Verein "Netzwerk Memoria" hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, "die literarische Begegnung zwischen Oberösterreich und Tschechien zu fördern". Und was läge da näher, als Entsprechendes auch am Beispiel Stifter zu initiieren, wo doch der im südböhmischen Oberplan, heute Horn­ Plan¡, geboren ist. Also zwölf Autorinnen und Autoren eingeladen, sechs aus Österreich, sechs aus der Tschechischen Republik, und Stifters "Bunte Steine" aus heutiger Sicht, einmal von hüben, einmal von drüber der Grenze, neu betrachtet. Das Ergebnis: "Stifter reloaded", also Stifter neu aufgeladen, was der zwar eigentlich so ganz und gar nicht nötig hat, aber probieren wird man's ja dürfen.
Netzwerk Memoria (Hrsg.): "Stifter reloaded - Ein Dutzend bunter Steine" (192 S., geb., € 16,90; Picus Verlag, Wien).

FELDBLUMEN IM BIEDERMEIERSCHMUCK.

Die Primel, ja, die kennt jeder. Auch Veilchen, Vergissmeinnicht und Glockenblume. Aber Osterluzei, Himmelsrebe, Nachtviole oder gar "kleinwinziger Zentunkel"? Immerhin, dem Stifter-Kenner sind sie, wenn schon nicht aus freier Natur, so doch aus der Erzählung "Feldblumen" geläufig, wo ihre Namen gleichsam als Zwischentitel in den Text geschoben sind. Die "Seltenheit einiger Pflanzen bewirkte, dass es leider nicht möglich war, zu jedem Zwischentitel der Erzählung eine zeitgenössische Darstellung zu finden", bekennt Lothar Schultes, und das, obwohl die Lebensdaten Stifters weitgehend mit der "Glanzzeit der Wiener Blumenmalerei" zusammenfallen. Sei's drum. Auch der so vorhandene aquarellierte Blumenschmuck des Biedermeiers ziert die in der Bibliothek der Provinz herausgekommene Neuausgabe der "Feldblumen" ungemein.
Adalbert Stifter: "Feldblumen" (Mit einem Vorwort von Lothar Schultes. 168 S., geb., € 22; Bibliothek der Provinz, Weitra).

LUTZ HOLZINGER: STIFTERS WELT.

Ginge es in der Literaturgeschichte danach, wer am meisten missverstanden wurde, Adalbert Stifter wäre ein Kandidat für die obersten Ränge. Meist beschränkt sich das Wissen über den österreichischen Dichter auf das Vorurteil, sein Werk sei "abgestanden und völlig aus der Mode gekommen". Das ist der Ausgangspunkt des Publizisten Lutz Holzinger für seinen Band über "Adalbert Stifter - Seine Welt". Mit dem Leben des Dichters hat der studierte Germanist Holzinger so seine Probleme, er wählt deshalb einen werkimmanenten Ansatz, um die berühmte Stifter-Welt einem heutigen Publikum zu erschließen. Im Zentrum stehen dabei die frühen Erzählungen, die Sammlung "Bunte Steine" sowie die drei großen Erzählwerke "Der Nachsommer", "Witiko" und "Die Mappe meines Urgroßvaters". Lutz Holzinger: "Adalbert Stifter - Seine Welt" (242 S., brosch., € 28; Holzhausen Verlag, Wien).

WOLFGANG MATZ: WELT ALS FEINDESWELT.

"Das Gute ist in gewisser Weise trostlos", sagte Kafka. Unter diesem Motto hat Wolfgang Matz, Autor einer Stifter-Biografie, einen bemerkenswerten Essay in zehn Kapiteln geschrieben. Stifters Welt, wie er sie schildert, ist in der Tat die trostloseste, alles in ihr ist denkbar außer die Rettung. Es ist eine Welt als "Feindesland", in der, wie im dunklen Grimm-Märchen vom Herrn Korbes, die Dinge den Menschen bedrohen, das Heim zur "tödlichen Falle" wird und der Tod "aus der Leere stürzt" wie ein "sinnloser, stummer Stein". Der "Nachsommer", schreibt Matz, sei Stifters einziger - und misslungener - Versuch gewesen, die Zivilisation als Rettung vor der Naturverfallenheit zu denken. Nicht einmal die Liebe rette, sie sei, wie am Ende des "Hagestolz", nicht mehr Trost, nur noch bloße Idee davon. Um die Geschichte und damit das Grauen zum Stillstand zu bringen, sei Stifter Reaktionär geworden. Er habe nicht erkannt, dass dieser Stillstand das Unheil fortsetzte. - Viele tiefe Stifter-Gedanken, virtuos auf 100 Seiten verdichtet: ein kleines Buch - es zu übersehen wäre ein Versäumnis.

Wolfgang Matz: "Gewalt des Gewordenen. Zu Adalbert Stifter" (104 S., brosch., € 12; Droschl Verlag, Graz).

FAST NUR FRAUEN. FAST NUR GEDICHTE.

Ein Buch zu Stifter, das sich abhebt: weil es vor allem Gedichte enthält, vor allem Frauentexte (seltsamerweise stammen alle großen Stifterjubiläums-Bücher von Männern) - und lauter unbekannte Autorennamen. Der Salzburger Autor und Lehrer Christoph Janacs leitet eine Schreibwerkstatt, mit ihren Teilnehmern hat er sich dem Jubilar gewidmet. Teils sehr persönliche Texte sind daraus entstanden. Zu Stifters Art: "ich möchte es mit stifter halten und mir die zeit beseh'n . . ." Zu Stifters Tod: "mustergültig artig wie ein zögling verbarg der bürger und dichter seine tigernatur . . . bis zum scharf gezogenen schlussstrich als ihm der säbelzahn eines nachts glatt und blutig durch die kehle fuhr". Oder zu Stifters Texten - etwa dem "Hagestolz": "die verhärmte Hand schreit nach der Liebe des Neffen / mit Eisengittern verschließt sie ihm das große Tor und wird zum Fels / das tränende greise Auge legt Lichtstrahlen in die Neige des Tages."
Christoph Janacs (Hrsg.): "Unerbittliche Sanftmut. Näherungen an Adalbert Stifter" (125 S., brosch., € 10; Arovell Verlag, Salzburg).

SCHULINSPEKTOR STIFTER.

"Dort trinkt ein Schulmeister Branntwein, hier zerfällt ein Schulgehilfe mit der Pfarrerköchin, dort wollen die Bauern die Sammlung nicht abgeben, und ich muss diese Dinge bearbeiten." Stifter, der Schulrat, der obderennsische Landesschulinspektor, von progressiven Reformvorstellungen erfüllt, ein direkter Fortsetzer der Ideen von Rousseau und Pestalozzi - der freilich, etwa mit seinem "Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen", an den vorgesetzten Behörden scheitert. Leo Leitner hat sich diesen Stifter, den Pädagogen, vorgenommen - in seinem Band "Spuren des Lernens".
Leo Leitner: "Spuren des Lernens. Adalbert Stifter als Pädagoge und Schulpolitiker" (140 S., brosch., € 19,90; Leykam Verlag, Graz).

"DER WALDSTEIG", ERLÄUTERT.

Im "Waldsteig" beschreibt Stifter, wie der junge, aber kauzige, schwerreiche Hypochonder Tiburius Kneight durch die Liebe zu dem "Erdbeermädchen" Maria geheilt wird (es geschieht im Wald, während eines Kuraufenthalts). Zwei junge deutsche Buchbinder und -künstler geben den Text nun in ungewöhnlicher Form neu heraus, nämlich liebevoll ausstaffiert mit einer Fülle von Anmerkungen, in denen Alltagsgeschichte und Hintergründe der Erzählung erhellt werden: etwa mit alten Lexikon-Ausschnitten, allerlei Wissenswertem über Erdbeeren oder auch der Erläuterung, wie das Kopftuch in der Ischler Gegend gebunden wurde.
Adalbert Stifter: "Der Waldsteig" (Illustriert mit Bild und Wort von Sonja Poll und Helmut Stabe. 84 S., Ln., € 20,60; Mitteldeutscher Verlag, Halle).

SONNENFINSTERNIS UND SCHNEESTURM.

". . . der Fluß schimmerte nicht mehr, sondern war ein taftgraues Band, matte Schatten lagen umher, die Schwalben wurden unruhig, der schöne, sanfte Glanz des Himmels erlosch, als liefe er von einem Hauche matt an, ein kühles Lüftchen hob sich und stieß gegen uns, über den Auen starrte ein unbeschreiblich seltsames, aber bleischweres Licht . . ." Die Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1942, beobachtet in Wien, von Stifter. Neun Texte hat der Literaturhistoriker Wolfgang Frühwald für sein Lesebuch ausgewählt: Beispiele dafür, wie Stifter die Natur erzählt - an einer Epochenschwelle, "wo das explodierende Erfahrungswissen umschlug in das Erschrecken vor der unbelebten Wüste des Kosmos". Wolfgang Frühwald (Hrsg): "Sonnenfinsternis und Schneesturm - Adalbert Stifter erzählt die Natur" (414 S., geb., € 20,50; DuMont Verlag, Köln).

STIFTER FÜR DIE OHREN.

Und weil das Hörbuch angeblich eines der letzten Segmente der Verlagsbranche ist, das nennenswerte Gewinne abwirft, und weil so ein Jubiläumsjahr natürlich schon von vornherein größere Gewinnerwartungen nährt, dürfen auch Stifter-Hörbücher im Stifter-Jahr nicht fehlen. Zugegeben, fast beleidigend wenige sind es, wenn man etwa den ja heuer gleichfalls zu bejubelnden Friedrich Schiller und den Aufwand, der um ihn getrieben wurde, als Maßstab nimmt. Immerhin, im fernen Hamburg hat Karl Menrad, manchen wohl noch aus seinen 14 Burgtheater-Jahren bekannt, für GoyaLit "Bergkristall" und "Brigitta" eingesprochen; und noch einmal "Brigitta", diesmal in ungekürzter Fassung, hat Christian Brückner schon 1990 für den Norddeutschen Rundfunk gelesen, eine Aufnahme, die in Brückners eigenem Hörbuch-Label, Parlando, nun auf CD erschienen ist.
Adalbert Stifter: "Bergkristall" (Gelesen von Karl Menrad. 1 CD, € 12,95; GoyaLit Verlag, Hamburg).

Adalbert Stifter: "Brigitta" (Gelesen von Karl Menrad. 1 CD, € 12,95; GoyaLit Verlag, Hamburg).

Adalbert Stifter: "Brigitta" (Gelesen von Christian Brückner. 2 CDs, € 23,80; Parlando Verlag, Berlin).

FANNY, "UNGESCHMINKT".

Wenn der langjährige Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins in München eine Stifter-Biografie vorlegt, dann erwartet der Leser wohl allerlei Gelehrtes und Gediegenes. Genau das wollte Peter Becher nicht. Weder eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur noch eine systematische Werkanalyse wollte er vorlegen. Sondern? Eine "ungeschminkte" Biografie verspricht der Klappentext, und ein paar Mythen über Stifters Leben bleiben in der Tat auf der Strecke, zum Beispiel über Fanny, seine unerfüllte Jugendliebe. Hier zeigt der Autor, wie leicht eine Person verklärt wird, zumal wenn die Betreffende nicht erreichbar ist. Die Nachwelt ist Stifter da oft nur allzu gern gefolgt.
Peter Becher: "Adalbert Stifter. Sehnsucht nach Harmonie" (Biografie. 253 S., geb., € 25,60; Friedrich Pustet Verlag, Regensburg).

STIFTER GOES POP.

Ein weißes Spitzentischtuch mit einem Kaffeerandfleck ziert das Cover von Leopold Federmairs groß angelegtem Stifter-Essay. Die Flecken in der Idylle, das Katastrophale und Exzessive hinter dem stillen Biedermeier sind denn auch Federmairs Zugänge zu Stifters Werk. Dabei entstehen erstaunliche Verbindungen zur Gegenwart, zum Irakkrieg etwa, zur Pop-Literatur, zur Öko-Bewegung oder zur Alltagskultur in Japan. Dass der Oberösterreicher Federmair in der Welt und Landschaft aufgewachsen ist, die den Hintergrund für Stifters Werk bildet, hat sichtbar Spuren in seinem Essay hinterlassen.
Leopold Federmair: "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie" (Essay. 334 S., geb., € 24; Otto Müller Verlag, Salzburg). [*]

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