Biografik: Die fremden Leben

Im 19. Jahrhundert galt sie als Königsweg der Geisteswissenschaften. Ihr anhaltender pekuniärer Erfolg steht freilich in merkwürdigem Kontrast zu ihrem ramponierten Ansehen. Die unmögliche Gattung: über Glanz und Elend der Biografik.

Im August 1995 berichtete die bri tische Zeitung "The Guardian" von einem Vertrag in der Höhe von 1,24 Millionen Pfund, den der bekannte englische Autor Peter Ackroyd mit einer Verlagsgruppe für seine nächsten acht Bücher abgeschlossen hatte, darunter drei Biografien, ein Genre, in dem Ackroyd bereits damals als Großverdiener bekannt war. Für seine mehr als 1000-seitige Dickens-Biografie (1990) und seine 1995 erschienene Biografie William Blakes kassierte er die als "legendär" bezeichnete Summe von 650.000 Pfund. Nichts vermag den Kurswert der Gattung Biografie in der angelsächsischen Öffentlichkeit besser zu veranschaulichen als diese Summen.

Inzwischen hat Ackroyd, wie andere auch, die Gattungsbezeichnung Biografie auf Dinge und Phänomene appliziert, die herkömmlicherweise nicht damit in Verbindung gebracht werden. Ackroyds London-Buch heißt "London. The Biography", und Greil Marcus' Buch über Bob Dylans legendäres "Like A Rolling Stone" nennt sich wenigstens auf Deutsch "Die Biografie eines Songs"; auch über das Jazz-Label "Blue Note" ist eine "Biografie" geschrieben worden, und Theo Sommer hat sich als "Biograf" des Jahres 1945 versucht.

Da zuletzt auch "Gott" und dem "Teufel" Biografien gewidmet worden sind, ließen sich daraus schöne Bezeichnungen und Arbeitsfelder für das neu gegründete Boltzmann-Institut zur "Theorie und Geschichte der Biografie" ableiten. Und selbst wenn es dort nicht mit dem Teufel zugehen wird, wie zu hoffen ist, so wird der liebe Gott im Detail stecken, gleichgültig, ob es sich um ein Detail handelt, das fehlt, oder um eines, das vermeintlich überflüssig ist. Denn "Lücke" wie "Überfluss" sind auf je andere Weise Herausforderungen für Theorie und Praxis der Biografie.

Diese Beispiele für den vielseitigen Gebrauch der Gattungsbezeichnung Biografie zeugen zumindest von ihrer ungebrochenen Popularität. Der pekuniäre Erfolg steht in merkwürdigem Kontrast zur ramponierten Dignität, die dieser Gattung jedenfalls in Literaturwissenschaft und Historiografie attestiert wird. Selbst Berühmtheiten, die es tun, wie der bekannte Althistoriker und Cäsar-Biograf Christian Meier, sprechen von der Schwierigkeit, Theorie "zu gebrauchen und zu entwickeln in einem Genus, welches relativ extrem auf der Seite der Erzählung lokalisiert sein mag".

Für akademische Karrierewege ist respektive war sie seit längerem ungeeignet; als Gegenstand gattungstheoretischer und -historischer Reflexion hat sie vergleichsweise wenig Beachtung gefunden, was wiederum das Vorurteil stützt, Biografik sei ein theorieloses oder nicht einmal theoriefähiges Forschungsfeld, somit kein Gegenstand der Wissenschaft. Man wird sagen dürfen, dass die literaturtheoretischen Paradigmen des 20. Jahrhunderts, vom Formalismus bis zur Dekonstruktion, vom New Criticism bis zur werkimmanenten Methode, am Ausschluss der Biografik mit je anderen Motivationen und Gründen beteiligt waren. Anders und zugespitzt gesagt: Im Gefolge dieser theoretischen Paradigmen ist die Biografie als unmögliche Gattung aus den als seriös bezeichneten Arbeitsfeldern der Literaturwissenschaft verschwunden.

Bei genauerem Hinsehen hätte man freilich bemerken können, dass die herausragenden Vertreter des russischen Formalismus interessante Versuche in "Leben Schreiben" unternommen haben. Zu denken wäre nicht nur an die späten Biografien Sklovskijs über Eisenstein und Tolstoi, seine Erinnerungen an Majakowski, sondern auch an seine ingeniösen, Laurence Sterne verpflichteten autobiografischen Schriften. Oder an die mit der Gattungsbezeichnung "Historischer Roman" versehenen Lebensdarstellungen von Jurij Tynjanov, wie die Fragment gebliebene über Puschkin, über Gribojedow ("Der Tod des Wesir-Muchtar") oder Küchelbecker ("Wilhelm Küchelbecker, Dichter und Rebell"), die dieser große Literaturtheoretiker als Fortsetzung seiner Wissenschaft verstand.

Die schlechte Reputation ist, wie oft, auch im Fall der Biografie dem ungenierten Weiterleben günstig: Die noch andauernde Praxis der Schul- und Universitätsreferate, modernisiert durch den Wahn von Folie und Powerpoint, hat den unreflektiertesten Gebrauch biografischer Information zu deren Merkmal werden lassen - bei gleichzeitig geltenden, hoch elaborierten Ausschließungsprozeduren der Biografik als Unterrichts- und Forschungsgegenstand. Die Rache des akademischen Underdogs Biografie ist somit auf fatale Weise gelungen. Es gibt Anzeichen, dass die Krise des akademischen Buches und der schrumpfende Arbeitsmarkt für Akademiker die davon Ausgeschlossenen bewegt, Biografien zu schreiben und sich von der Popularität des Genres ein materielles Auskommen erhoffen zu können. Bei den üblichen Kränkungen, die der akademische Betrieb für die darin Beschäftigten vorsieht, ist die von "Kursbuch", "Literaturen" und anderen Zeitschriften ausgerufene Rückkehr der Biografien für einige auch Genugtuung.

Die im angelsächsischen Bereich ungleich höhere Bewertung der Biografik hat selbst dort lange Zeit keine kritisch-theoretischen Standards befördert. Immerhin hat in England allein die beeindruckende Gattungsreihe für eine Konsistenz der biografischen Schreibregeln gesorgt; sie erst hat den deutlich artikulierten Widerstand ermöglicht. So konnte Charlotte Bront« ihrer Freundin Ellen Nussey schon 1834 einen veritablen Kanon von Biografien zur Lektüre empfehlen: "For Biography read Johnson's Lives of the Poets, Boswell's Life of Johnson, Southey's Life of Nelson, Lockhart's Life of Burns, Moore's Life of Sheridan, Moore's Life of Byron, Wolfe's Remains."

Aus heutiger Sicht verrät diese Liste gewiss auch die "hohe Sterblichkeitsrate", die Virginia Woolf für diese vergleichsweise junge Gattung konstatiert hat. Ähnlich wie ihr Freund Lytton Strachey, der große Erneuerer des Genres Biografie, neigt sie zur Ansicht, dass es - in England - nur drei große Biografen gegeben habe: Johnson, Boswell und Lockhart. Im Vorwort zu seinen berühmten wie berüchtigten biografischen Essays "Eminent Victorians" (1918) schreibt Strachey: "The art of biography seems to have fallen on evil times in England. We have had, it is true, a few masterpieces, but we have never had, like the French, a great biographical tradition."

Es hat wohl mit der Abwertung der Biografie im akademischen Bereich zu tun, dass wichtige deutsche Biografien des 19. Jahrhunderts selbst in Fachkreisen aus dem Gedächtnis gelöscht sind: Immerhin hat 1995 Herman Grimms "Das Leben Michelangelos" (1860-63; 10. Auflage 1901!) für kurze Zeit eine Neuauflage als Insel-Taschenbuch erlebt; daneben könnten Erich Schmidts Lessing- oder Carl Justis Velazquez-Biografie eine Vorstellung davon geben, was im 19. Jahrhundert noch als Königsweg der Geisteswissenschaften galt und wie dieser beschaffen war. Einer ihrer theoretischen Begründer, Wilhelm Dilthey, hat - als begleitende theoretische Reflexion zu seiner eigenen monumentalen Schleiermacher-Biografie - Biografie "als die literarische Form des Verstehens von fremden Leben" bestimmt. Die enge Verzahnung von Selbstbiografie, Biografie und (Bildungs)Roman erinnert an die Genesis dieser Beziehung zwischen dem frühen Roman und der literarischen Biografie, wie sie für das 18. Jahrhundert untersucht worden ist.

J. L. Clifford spricht, wie Strachey, ganz selbstverständlich von "Kunst der Biografie"; er verbindet mit dieser Gattung also einen künstlerischen Anspruch. In der Ansicht, Biografie als Teil der Literatur zu verstehen, ist leider ein weiterer Grund für ihre Missachtung zu finden, denn die Literaturwissenschaft hat auf sträfliche Weise die Analyse und Beschreibung nichtfiktionaler Prosakunst vernachlässigt. Das ist im Fall der (Auto)Biografie umso bemerkenswerter, als gerade der Roman auf unvergleichlich elaborierte Weise die Möglichkeiten und Grenzen des "Leben Schreibens" reflektiert hat. Damit ist nicht einmal der Sonderfall gemeint, dass Probleme der Biografik im Roman verhandelt werden, wie zum Beispiel in der österreichischen Gegenwartsliteratur, von Marlene Streeruwitz' "Nachwelt." bis zu Norbert Gstreins Destruktion einer Emigrantenbiografie in "Englische Jahre".

Nicht zu reden ist hier von den zahlreichen literarischen Texten, in denen real verbürgte Schriftsteller-, Wissenschaftler- und Künstlerviten in überraschende fiktive Konstellationen versetzt werden oder, Kult des Biografischen, zum Anlass für mehr oder weniger kunstvolle Konfessionen und Anbiederungen werden: Das Geständnis, die Forschungsliteratur nicht zur Kenntnis genommen zu haben, reicht zumeist schon als Signal für Nähe und Wärme.

Die Häufigkeit, mit der in den vergangenen 30 Jahren solche semi-(auto)biografischen Textformen auftauchen, lässt darauf schließen, dass das verpönte Biografische nicht verschwunden ist, sondern in vielen Gestalten und Gestaltungen wiederkehrt. Diese zu studieren ist ein wohl unerlässlicher Beitrag zu einer Kultursoziologie der Gegenwart. Und wenn hier die Kompetenz der Literaturwissenschaft in Sachen Biografik reklamiert wird, ist evident, dass Biografik ein geeignetes Objekt für multidisziplinäre und -mediale Forschungen darstellt: von der Geschichtsschreibung, der Sozialgeschichte über Soziologie, Film- und andere Medienwissenschaften bis hin zum (Selbst)Porträt in Fotografie und Malerei, nicht zu vergessen: die Psychoanalyse und Biowissenschaften et cetera. Entgegen allen Behauptungen, die auch der Biografie ein Denotat absprechen, tritt auf diesem Feld auch die Justiz folgenreich in Erscheinung. Sie ist zudem, wie Psychiatrie und Polizei auch, eine Biografien erzeugende Agentur.

Die Geschichte des Romans ist also auf intrikate Weise mit der Geschichte der Gattung Biografie verschlungen. Die Biografik hat zu ihrem eigenen Schaden das literarisch reflektierte Darstellungsproblem und die entsprechenden Techniken der Repräsentation eines Lebens kaum zur Kenntnis genommen. Man könnte polemisch zugespitzt sagen, dass die anwachsende Komplexität des biografischen Modells in der Fiktion mit zunehmender Schlichtheit der Darstellung eines Lebens in der Biografik einherging. Für die Erfolgsbiografien in der Zeit zwischen den Weltkriegen ist dieses Auseinanderklaffen schon zeitgenössisch bemerkt und deren Ideologie bloßgestellt worden: Siegfried Kracauers und Leo Löwenthals Analysen der Erfolgsbiografik eines Stefan Zweig oder Emil Ludwig sind Klassiker der biografiekritischen Gattungsreflexion.

Wie Benjamins "Abschlachtung" (so Scholem an Benjamin, 2. März 1939) von Max Brods 1937 erschienener Kafka-Biografie beweist, ist damit keine prinzipielle Ablehnung des Genres, wohl aber eine dezidierte Kritik am Mangel einer "pragmatischen Strenge" verbunden, "die von einer ersten Lebensgeschichte Kafkas zu fordern ist". Benjamins bemerkenswerter Schlusssatz zerrt den Biografen ans Licht und macht ihm einen Prozess, in den Kafka involviert bleibt: "Desto merkwürdiger ist sie als Zeugnis einer Freundschaft, die nicht zu den kleinsten Rätseln in Kafkas Leben gehören dürfte." Das Leben der ein Schriftstellerleben begleitenden Biografen wäre ein apartes Feld der Biografik.

Die bedeutendsten Schriftsteller und Romanautoren der Moderne haben die Verschränkung von Roman und Biografie bedacht. Es ist kein Zufall, dass die Erfahrung des Ersten Weltkriegs die radikalsten Zweifel an dieser Verschränkung ausgelöst hat. Ossip Mandelstams Essay "Das Ende des Romans" aus dem Jahre 1922 deklariert daher auch das Ende der Biografie, die er für hoffnungslos überholt hält: "Das weitere Schicksal des Romans wird nichts anderes sein als die Geschichte der Zerpulverung der Biografie als einer Form der persönlichen Existenz, sogar mehr als eine Zerpulverung: ein katastrophaler Untergang der Biografie. Nun sind die Europäer aus ihren Biografien herausgeschleudert worden wie Billardkugeln. Außerdem ist das Interesse an der psychologischen Motivierung von vornherein untergraben und diskreditiert durch die Ohnmacht psychologischer Motive vor den realen Kräften, deren Strafgericht über die psychologische Motivierung von Stunde zu Stunde grausamer wird."

Diese scharfsichtige Diagnostik, die Biografik und Roman unter dem Vorzeichen des Erzählens mit der historischen Situation in Verbindung bringt, greift in die in den Zwanzigerjahren geführte Debatte über die Krise des Erzählens und damit auch um ein neues Gattungsverständnis von Roman und Biografie.

Freud, ein Spezialist für Desillusion, hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg eine strategisch usurpatorische Haltung zur Gattung Biografie eingenommen. Sie müsse unser sein, ließ er hochgemut verlauten, in der Hoffnung, dass die artikulierten Geheimnisse die Gattung im Sinne von mehr Wahrhaftigkeit veränderten. Dieses Unternehmen hat ungeachtet aller Pannen bis heute andere Aufmerksamkeitsgebote in die damals erstarrte Gattung eingeführt. Pointiert gesagt: Der biografische Denkmalskult des 19. Jahrhunderts transformierte sich in ein Sprechritual über frühkindliche Sexualität: Nie zuvor wurde die Kindheit des Biografierten so zum Kern biografischer Wahrheitsfindung gemacht, mit den entsprechenden Revisionen dessen, was nach dem Teleologiezwang des 19. Jahrhunderts die Wahrheit eines Menschenlebens ausmachte.

Psychopathografie hieß das in den Darstellungsmethoden erstaunlich viktorianisch anmutende Genre biografischen Schreibens, das den öffentlichen Glanz des Ruhms und der nationalen Repräsentanz durch die (Sexual)Not der frühen Jahre ersetzte. Die skandalumwitterte Umwertung biografischer Konsistenzbildung - vereinfachend gesagt: Archäologie statt Teleologie - ist indes mit dem für das 19. Jahrhundert konstatierten "biographical appetite" (Carlyle) durchaus vereinbar, wenn nicht gar dessen Steigerung. Sie konnte daher so lange als Bestätigung dieser anderen Konsistenz dienen, wie diese Methode der Enttabuisierung von Sexualität auf das biografierte Objekt und nicht auf den Biografen selbst angewendet wurde.

Als "großem Mann" blieb dies Freud indes keineswegs erspart. Freud wurde das Ansinnen von Freunden, sich zu Biografen seines Lebens aufzuschwingen, zu einer Qual. Das Desillusionierungspotenzial seiner Theorie sollte nunmehr nicht bloß auf die Aussparungstechniken der viktorianisch etablierten Gattung Biografie, sondern, prinzipieller, auf die Biografie überhaupt angewandt werden.

Dass die "biografische Wahrheit" nicht zu haben oder jedenfalls nicht zu brauchen sei, war eine Einsicht, die jene am allerwenigsten beherzigen wollten, die sich im Namen psychoanalytischer "Wahrheitskriterien" an dem auch kommerziell aussichtsreichen Genre Biografie versuchten. Freud wurde so zum Gefangenen seiner eigenen Doppelstrategie: Er begrüßte die zunehmend psychoanalytisch inspirierten Entzauberungsversuche der "biografischen Illusion", um zugleich, als Betroffener, den Wahrheitsgehalt der Entzauberung zu bezweifeln.

Die sonst als Widerstand erkannte, voranalytische Gewissheit, über sein eigenes Leben besser Bescheid zu wissen als die Biografen, ob sie nun Stefan oder Arnold Zweig oder Fritz Wittels heißen, wird in eigener Sache zum prinzipiellen Verdacht gegen das Projekt der Biografie und die Projektionen ihrer Verfasser verallgemeinert.

Theodor Reik hat an Freuds Dostojewski-Aufsatz "Dostojewski und die Vatertötung" nicht nur die mangelnde Darstellungsökonomie kritisiert; er hat auch einen entscheidenden Aspekt der Persönlichkeit Dostojewskis vermisst. "Wäre es nicht naheliegend und angemessen gewesen", so fragt er, "hier den großen Psychologen anzureihen? In einer Zeit, in der jeder psychotherapeutische Praktiker glaubt, die Psyche habe keine Geheimnisse mehr für ihn, da jeder unbedeutende Assistent einer neurologischen Klinik aus der flüchtigen und missverstandenen Lektüre der Freudschen Schriften den Anspruch ableitet, ein Kenner der Höhen und Tiefen des menschlichen Seelenlebens zu sein - in dieser Zeit, sage ich, hätte man es gerne gesehen, wenn einer der größten Psychologen einem seiner großen Vorläufer, der ein Dichter war, einen Gruß gesendet hätte."

Freuds Antwort kommt einer veritablen Abwehr gleich: "Den Psychologen Dostojewski habe ich allerdings dem Dichter subsumiert. Ich hätte ihm auch vorzuwerfen, dass sich seine Einsicht so sehr auf das abnorme Seelenleben einschränkt. Sie haben auch Recht mit der Vermutung, dass ich Dostojewski bei aller Bewunderung seiner Intensität und Überlegenheit eigentlich nicht mag. Das kommt daher, dass sich meine Geduld mit pathologischen Naturen in der Analyse erschöpft. In Kunst und Leben bin ich gegen sie intolerant." Freuds Vorwurf an den Psychologen Dostojewski erinnert frappant an die Vorwürfe, die sich die von ihm begründete Psychoanalyse gefallen lassen musste. Dass er den Psychologen dem Dichter subsumiert habe, erscheint umso absurder, als vor dem Dichter die Analyse bekanntlich ihre Waffen strecken muss. Ein wesentliches Moment des Psychologen Dostojewski besteht darin, dass er in den "Brüdern Karamasow" die Machteffekte der Psychologie demonstriert. Freud, der auf den berühmten Spott auf die Psychologie zu sprechen kommt, sie sei ein Stock mit zwei Enden, nennt das eine "großartige Verhüllung", die man nur umzukehren brauche. "Nicht die Psychologie verdient den Spott, sondern das gerichtliche Ermittlungsverfahren."

Dostojewski hat nicht nur, wie Freud anerkennt, die Psychoanalyse "mit jeder Gestalt und jedem Satz selbst erläutert", sondern die Machteffekte ihrer professionellen Geständnistechniken (und ihrer Vorläufer) perspektiviert sowie den Status der solcherart produzierten Bekenntnisse reflektiert. Damit wäre zu Dostojewskis Romanen zurückzukehren, die "vor Freud" wussten, dass die Wahrheit, die in Geständnissen produziert wird, weder evident noch ein Beweis ist. Produziert wird in Geständnissen vielmehr das, was wir, durch Michel Foucault belehrt, für ein besonderes Selbst halten.

Allerdings ist einzuräumen, dass Freud in einem seiner letzten Texte, "Konstruktionen in der Analyse" (1937), am radikalsten darnach gefragt hat, welche Wahrheit die Psychoanalyse entdeckt. Freuds Untersuchung der Rollen, die Analysand und Analytiker spielen, um die Vergangenheit des Analysanden zu (re)konstruieren, führt zu dem paradoxen Ergebnis, der Wahrheitsbeweis liege darin, dass der Analysand weitere Geschichten erzählt (die dem Analytiker niemals genügen, weshalb der Patient immer neue Geschichten produziert).

Dieser tendenziell unendliche Regress führe aber "oft genug" nicht zu den Erinnerungen des Patienten: "Anstatt dessen erreicht man bei ihm durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe leistet wie eine wiedergewonnene Erinnerung. Unter welchen Umständen dies geschieht und wie es möglich wird, dass ein scheinbar unvollkommener Ersatz doch die volle Wirkung tut, das bleibt ein Stoff für spätere Forschung." Ersetzt man in diesem Zitat "therapeutisch" durch "biografisch", so bleibt die Frage, warum bei uns Biografie-Konsumenten so oft ein "unvollkommener Ersatz doch die volle Wirkung tut".

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