Flöten im Kopf

Ein Musikleben, geprägt von gehörlosen Künstlern, Dirigenten und Komponisten: Vision oder Wirklichkeit? Wer nicht hören kann, darf fühlen: Korrektur eines Vorurteils.

Angenommen, die Wahrnehmung von Musik wäre eine Fähigkeit des menschlichen Geistes, die lange vor jedem Hören und weit über dieses hinaus die ganze Bandbreite menschlicher Empfindung zum Schwingen bringt. Angenommen, Musik bedürfte des Hörens nicht, um elementares emotionales Erleben von Schmerz bis Lust hervorzurufen und in allen Schattierungen die Seele zu erreichen. Angenommen, die Musik, Ernst Blochs "Universum ohne Äußerlichkeit", stünde als Farbe, als Klang dem Menschen offen, auch wenn er nicht hört. Dann wären Tänzer und Musiker denkbar, die nicht hören. Dann wären Musikstudien denkbar für Studenten, die nicht hören, und ein ganzes Musikleben, geprägt von gehörlosen Künstlern, Dirigenten und Komponisten.

Die Vision, scheinbar unvorstellbar, ist längst Realität. Zahlreiche Forschungsprojekte, vor allem in den USA, haben gezeigt, dass gehörlose Menschen mittels  Vibrationssinn nicht nur Klänge wahrnehmen, sondern auch deren Komponenten - Klangfarbe, Tonhöhe, Lautstärke und Rhythmus - unterscheiden können; so werden etwa Töne eines Kontrabasses im Brustkorb, Töne von Geigen oder Flöten eher im Kopf gespürt und so exakt unterschieden, dass sich dabei vielfach kaum Unterschiede zur Wahrnehmung Hörender feststellen lassen. Es dürfte sich das Vibrationsfühlen bis in Bereiche hinein ausweiten lassen, in denen Schwingungen von Hörenden bereits als Töne wahrgenommen werden, sogar bis in mittlere Frequenzbereiche hinein, in denen sich auch Sprache bewegt.

Musik ist, physikalisch betrachtet, zunächst einfach eine Bewegung in der Umgebung; diese Bewegung erzeugt sich fortpflanzende Schwingungen. Hören ist das komplexe Wahrnehmen dieser Schwingungen, wobei dem passiv-physischen Prozess des Signaltransports der aktiv-bewusste Vorgang des Zuhörens gegenübersteht.

Der passiv-physische Prozess des Signaltransports findet bei Hörenden einerseits über das Ohr und dabei vor allem über die etwa 30.000 Nervenfasern im Innenohr statt, ein Vorgang, der unter dem Begriff "auditive Perzeption" zusammengefasst wird; andererseits ist jede akustische Wahrnehmung auch gesamtkörperliches Wahrnehmen von Schwingung.

Während bei Hörenden aber die Wahrnehmung über das Ohr dominiert und die gesamtkörperliche Schwingungswahrnehmung eine untergeordnete Rolle spielt, verhält es sich bei Gehörlosen genau umgekehrt: Die auditive Perzeption ist zwar vielfach vorhanden, jedoch nur als sogenannte "Resthörigkeit" in unterschiedlichsten Abstufungen bis hin zum gänzlichen Fehlen; im Gegensatz dazu ist das gesamtkörperliche Schwingungswahrnehmen bei gehörlosen Menschen völlig unbeeinträchtigt und oft - in Ermangelung auditiver Wahrnehmung - besonders sensibel. Dieses körperliche Wahrnehmen von Schwingung ist in hohem Maß ausbaubar bis hin zu einer Art "zusätzlichem Sinn", allgemein als "Vibrationssinn" bezeichnet.

Vermutlich waren die Amerikaner William W. Turner und David E. Bartlett die ersten Gehörlosenpädagogen, die klar erkannten, dass Musikrezeption auch über nicht akustische Sinnessysteme möglich ist. Ihre Erkenntnisse, 1848 veröffentlicht, wurden zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, die die gesamte US-amerikanische Gehörlosenpädagogik revolutionierte. So gab es in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts bereits Rhythmus- und Perkussionsorchester gehörloser Schüler, denen bald auch Instrumentalbands folgten, bestehend aus musikalisch auffallend begabten gehörlosen Schülern; besonders erfolgreich war die Band der Illinois School for the Deaf, deren Leiter selbst gehörlos war: Musikaktivität Gehörloser erstmals ohne Zutun Hörender.


Im Zuge einer mit großem Selbstbewusstsein gelebten eigenständigen Kultur der Gehörlosengemeinschaft in den USA sind mittlerweile vielfältige Formen gehörloser Musikkultur entstanden. Als einige Beispiele seien genannt: gebärdeninterpretierte Lieder, gebärdenintegrierende Tänze, außerdem Musicals, Popsongs und Opern in Gebärdensprache, bei denen musikalische Elemente vor allem durch Bewegung ausgedrückt werden. An der amerikanischen Gallaudet-Universität, an der es ein Ensemble gehörloser Tänzer gibt, haben gehörlose Interessenten auch die Möglichkeit, verschiedene Musikstudien zu absolvieren.

Die Verbreitung der Gebärdensprache und gehörlosenkultureller Werte wird als eine der wichtigsten Aufgaben gebärdensprachlicher musikalischer Kunstformen angesehen. Musik dieser Art ist auf Grund ihrer stark visuellen Prägung einzigartig, neu und unvergleichlich und könnte, bei größerer Bekanntheit, auch das europäische Musik- und Bildungswesen in hohem Maße inspirieren, erneuern und bereichern.

Demgegenüber spielt in Österreich Musik im schulischen Curriculum gehörloser Kinder eine ganz andere Rolle: Musikalische Elemente wurden lange Zeit europaweit ausschließlich im Dienste des Sprechenlernens eingesetzt; die traditionelle österreichische Gehörlosenpädagogik befindet sich nach wie vor auf diesem Stand.


Ein eigenständiger Zugang zum Medium Musik wird gehörlosen Menschen hierzulande nicht zugestanden. Man geht sogar so weit, gehörlosen Interessenten in Österreich den Zugang zu Lehramtsstudien zu verweigern mit der Begründung, Gehörlose könnten das Fach Musik nicht unterrichten. Bis heute gibt es somit - selbst für gehörlose Kinder - (fast) keine gehörlosen Lehrenden.

Musik wird hier zum Instrument der Diskriminierung gehörloser Menschen - eine Situation, wie sie weiter nicht entfernt sein könnte vom anfangs entworfenen, insofern immer noch visionären Bild. - Was auf eine weitere Vision verweist.
Angenommen, Sprache wäre eine grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, auch ohne Gehör wahrnehmbar, auch ohne Stimme artikulierbar. Angenommen, Sprache bedürfte weder des Hörens noch des Sprechens, um alles auszudrücken, was den Menschen ausmacht. Angenommen, es gäbe visuelle Sprachen mit allem Inventar, das eine menschliche Sprache braucht. Dann wären visuelle Sprachen denkbar, die gehörlosen Menschen gerecht würden. Dann wären Bildungswege in diesen Sprachen denkbar, die gehörlosen Kindern offen stünden. Dann wäre ein Leben gehörloser Menschen ohne "Behinderung" im Sinne von Einschränkung  denkbar.

Diese Vision einer visuellen Sprache ist längst Realität. Lange vor den neuen Formen der Kunst _ und sogar, wie einige Sprachwissenschaftler argumentieren, vor den Lautsprachen - sind in allen Gehörlosengemeinschaften der Welt eigenständige Sprachen entstanden. Sie bilden eine ganze Sprachfamilie, die sich von den tausenden Lautsprachen der Welt schon auf den ersten Blick durch das Medium unterscheidet: Es ist die Familie der Gebärdensprachen. Gemeinhin oft als "Gehörlosen-" oder "Zeichensprachen" fehlbezeichnet, handelt es sich dabei um räumliche Sprachen, die nicht akustisch, sondern visuell ausgedrückt und wahrgenommen werden.

Innerhalb dieser Familie gibt es zahlreiche Einzelsprachen (wahrscheinlich ebenso viele wie Lautsprachen, also etwa 6000), die Lautsprachen auf allen Ebenen ebenbürtig sind und untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen. Die American Sign Language (ASL) war die erste Gebärdensprache, welcher vom amerikanischen Linguisten William C. Stokoe 1960 mit den Mitteln moderner Linguistik sozusagen "echter Sprachcharakter" nachgewiesen wurde. Dass es sich dabei um vollständige, grammatikalisch strukturierte menschliche Sprachen handelt, ist seither wissenschaftliches Allgemeingut. Diese Erkenntnis musste sich allerdings erst "durch ein Dickicht von tradierten Gegen-Hypothesen und Vorurteilen" kämpfen, wie es die Linguistin Penny Boyes Braem formulierte: Denn nicht nur die musikalischen, auch die sprachlichen Fähigkeiten gehörloser Menschen überstiegen bei weitem die Erwartungen hörender Pädagogen.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert besteht das Hauptanliegen der traditionellen Pädagogik darin, gehörlose Kinder in der Lautsprache zu unterweisen. Siegmund Prillwitz, Sprachwissenschaftler am Institut für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser an der Universität Hamburg, bringt es auf den Punkt: "Gehörlosenpädagogik reduzierte sich weitestgehend auf eine Sprechpädagogik, eine Pädagogik des Entstummens." Prillwitz benennt auch die Folgen: "Die Gehörlosengemeinschaft wurde als Gefahrenhort für die lautsprachliche Entwicklung der Gehörlosen empfunden und verschwand deshalb aus dem institutionalisierten Bildungskonzept." Die Existenz einer eigenständigen, visuell orientierten Sprachform wurde eher als bedrohlich denn als hilfreich betrachtet; die Übermacht lautsprachlicher Orientiertheit in der Gehörlosenbildung führte dazu, dass das Bildungsniveau Gehörloser weit unter das Niveau Hörender sank. Menschen, die grundsätzlich nicht behindert sind, wurden erst dadurch zu "Behinderten", dass ihnen der Zugang zu einer für sie idealen, weil visuellen Sprachform verwehrt wurde. Eine "Sprachminderheit" wurde zu einer "behinderten" Minderheit gemacht.
Weltweites Hauptanliegen von Experten und Betroffenen sind Anerkennung und Gleichberechtigung der nationalen Gebärdensprachen. Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes, begründet das Engagement der Betroffenen: "Die rechtliche Absicherung des kulturellen und sprachlichen Erbes der Gehörlosen, die Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache und alle damit verbundenen Sprachenrechte sind unser dringlichstes Ziel. Nur so können Bildungsstandards erhöht und Staatsbürgerschaftsrechte ernsthaft wahrgenommen werden."

In einigen europäischen Ländern erfolgte bereits die gesetzliche Verankerung des Rechtes auf die jeweilige - nationale - Gebärdensprache, was sich auf Bildung und Aufstiegschancen gehörloser Menschen fühlbar positiv auswirkte. In Österreich fanden die Bemühungen um die Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) bisher keine Resonanz. So zahlreich wie die Appelle an zuständige Stellen sind auch die ablehnenden Bescheide.
Man scheint, wie auch immer sich die ablehnende Haltung artikulierte, an einer gehörlosen österreichischen Sprachminderheit nicht interessiert. Womit ein weites Gebiet angesprochen wäre: die Bedeutung der Existenz von Minderheiten für die Mehrheit, für Gesellschaft und Staat. - Was auf eine weitere Vision verweist.
Angenommen, Mehrheiten würden Minderheiten wahrnehmen als wertvolles Zeugnis menschlicher Vielfalt. Angenommen, die Mehrheit billigte Mitgliedern einer sprachlichen Minderheit das Recht zu, ihre eigene Kultur und Sprache zu praktizieren, zu erhalten und weiterzugeben. Dann hätten Minderheiten einen Platz in der Gesellschaft. Dann könnte sprachliche Vielfalt das Bildungswesen eines Staates sowie Kultur und Kunst in ungeahnter Weise bereichern.
Diese Vision, durchaus vorstellbar, ist längst nicht Realität. 

Katharina Brizic arbeitet als Pianistin und Instrumentalpädagogin in Wien und Tokio. Verena Krausneker ist Sprachwissenschaftlerin und Vorstandsmitglied des Österreichischen Gehörlosenbundes.

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