Anton aus Tirol

"I geh jetzt weg. Bis ins Eismeer." Von einem Tiroler namens Anton Neumeier, der 1931 auszog, "Lappe" zu werden auf immerdar, und davon, wie ich den heute 93jährigen am Polarkreis fand.

W IA SICH DE - neinzehnhundat einunddreißig -, de Heimwehr ler und die Naturfreinde, ge geneinander gstanden san mit so die Maschinengewehre, da hab i gsagt: I geh jetzt weg. Bis ins Eismeer." Sie sind dann einfach fort? "Ja." Woher stammen Sie? "Ausch Wörrrgl, Tirol. Ja, und mit neinzehn, so ungefähr, bin i dann fuat von daham, und i bin Lapp wordn, hab Rentiere ghabt, hab imma da gwohnt. I kann ja fünf Sprachen."

ER IST IN die Wälder. Fast hoffe ich, dass sich Anton von niemandem mehr finden lässt, dass ihn gar niemand mehr sucht, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises. Drei Tage, im äußersten Norden Europas, nach Finis terrae und zurück war ich gegangen, um Anton zu finden. Doch einem Mann so nachzustellen, ihn auszuforschen, nur weil er sehr alt ist und Tiroler und "bis ins Eismeer" ging in den Dreißigerjahren, das erschien mir jetzt, da ich vor ihm stand, als ganz fadenscheinig, ja übertrieben. Warum ihn nicht in Frieden lassen?, dachte ich, da sah er mich, fragte gleich: "Kimmst du za mirr? No, geh mit eina da."

Aus meiner Tasche krame ich ein Bier, verlegen auch mein Tonbandgerät. "Mei, a Bier", sagt er. Wir teilen. "Norwegisch konnt ich schon als Bua! Dahoam scho." Hat man in Tirol in der Schule Norwegisch gelernt? "Na, i bin nia" - das schreit er beinah - "in die Schui gangen, die Sproch hab i ma söba glernt. Norwegisch, des is ja die närmalste Sproch, was es gibt." Wie kamen Sie hierher, nach Lappland? "Mitn Zug durch Deitschland, und dann mitn Schiff. Nar-vik, Hammerfest. Dann bin i in Norwegen gwohnt und in Finnland, und wanns mi von da ausgjagt habn, bin i wieda durthin."

War es schwer, Arbeit zu finden? "Naa, Arbeit hab i glei ghabt! I hab ja immer Rentier ghütet. Und tischlern konnt ich auch a bissl. I war ja a besserer Arbeiter als wia a Lapp selber." Und dann in Hochdeutsch: "Hunde konnte ich steuern und anlernen und Rentiere mit einem Strang fahren. Net mit zwoa!" Als Hirte mussten Sie mit den Rentierherden wandern? "Ja, oiwei, Tag und Nacht. Und im Zelt hamma gwohnt. Zelt, also Kota, jo, Kori auf Lappisch."

Hamma. Haben wir. Gekommen sind sie aber allein, 1931? "Allein, ja, i mag koan mitnemma. Allein kimmt ma am besten durch!" Dann schaut Anton Neumeier an mir vorbei, aus dem Fenster oder nur ins Glas, sagt, leise: ". . . verheirat bin i ja nia gwesen . . ." Pause. ". . . net, na . . ." Pause. Dann, sehr lebhaft: "Brennst du Zigaretten?"

Ans Eismeer. Weshalb? Das habe ich ihn nicht gefragt. Es befremdete mich gar nicht, dass ein Alpler in seinem Tiroler Tal ans "Eismeer" denkt, wenn er auswandern will. "Eismeer", das ist so stur und eigen und beinhart, so herrisch wie das Gebirge, aus dem Anton kommt.

Über der Zigarette wird er ruhig, schnauft aus und fragt: "Wia kimmscht denn du überhaupt her?"

ICH LEBE IN Lappland, wie er. Fühlte mich einsam. Im Telefonbuch entdeckte ich eine "Tirol-Lappland-Gesellschaft" mit Sitz in Rovaniemi, im Dorf des Weihnachtsmannes am Polarkreis. Ich rief an. "Ku-De-We", hörte ich am anderen Ende der Leitung sagen, in Deutsch. Das klang nach Geschäft, war aber ein Name. Herr Kudeweh ist Präsident der "Tirol-Lappland-Gesellschaft". Er ist zwar weder Tiroler noch Lappe, aber ihr Präsident. Ich fragte, ob es denn Tiroler, meinetwegen auch andere Österreicher gebe, die hier oben lebten. "Nee", er zögerte, "doch, jah, warten Sie mal. Einn. Der ist schon seit dem Krieg hier oben, janz oben. Aber der is ja sicherlich schon jestorben." Ganz oben? Im Himmel dann?, dachte ich. Doch ich riet: Am Nordkap? In Utsjoki, dem nördlichsten Ort in Finnland? "Jah, dort oben", hauchte Kudeweh, "jah. Aber ich hab jetzt Kunden in meinem Geschäft." Ich legte geschwind auf.

"I WOA BAN KRIAG nix", sagt Anton Neumeier rasch. "I woa bei die Lappn, da is ma nix gschehn. Ich konnt schon Lappisch und Finnisch um die Zeit." Nix. (Im sogenannten Fortsetzungskrieg zwischen Finnland und Russland, 1941 bis 1944, kämpften 200.000 Deutsche und Österreicher, "Gebirgsjäger", in Lappland. Zunächst an der Seite der Finnen. Als Finnland 1944 mit den Sowjets ei- nen Separatfrieden schloss, wendete sich das Blatt: Die einstigen Alliierten mussten die Wehrmacht selbst aus Lappland vertreiben. In Rückzugsgefechten machte die das Gros der Städte in Nordfinnland dem Erdboden gleich.)

"In Finnland sind sie ja oft ganz bled, die bledn Hund!" Wie das? "Ja, vorm Kriag, da kommt der Präsidentenbefehl: Alle Deutschen weg, enteignen. Mich schickns auch weg. Das Geld hab ich versteckt, in der Erde, in einer Glasflasche, dort, wo ich gwohnt hab, in Nunnanen. In Schweden hab i dann sieben Monate gwohnt, und dann, dann kommt so einer und sagt: ,Sie müssen mit nach Finnland', da hab i nur glacht. Braucht habn sie mich, weil ich Sprachen konnte . . . Dann komm i nach Helsinki, des ham die Russen schon bombadiert, und hab so an roten Schein kriagt. Und im Zug sind ma dann nach Kirkenes, nach Norwegen gfarn. I war dann in Kirkenes bei der Wehrmacht, aber ich war ja bloß a so a Laufbursch. A Ziviler, kein Soldat. Nia a Gwehr gschossen hab i. Des in Kirkenes, des waren ja alles Innsbrucker. Und dann war ich fahnenflüchtig, aber mir hams nix gmacht. Des warn ja alles Innsbrucker."

DAS NORDKAP. Norwegen. Auf die vage Anleitung des Herrn Kudeweh hin hatte ich drei Tage vor unserem Treffen dort, "janz oben", meine Suche begonnen. Auf dem Plateau dieser baumlosen Felseninsel stieg ich aus dem Auto, bei Sonnenschein, kurz nach Mitternacht. Rentiere ästen neben der Straße auf dürftigen, senfgelben Wiesen, neben Schneeflecken, und tief unten in den Fjorden kräuselte sich das Meer, purpur jetzt, eisgrün und durchsichtig aus der Nähe, und schwarze Felswände spien Gischt nach unten. Ins Eismeer.

Die Menschen hier waren Fremde gewohnt, Fremde in der Überzahl - tausend kommen täglich und starren in ebendiese Mitternachtssonne, die im Sommer über einen Monat lang nicht untergeht. Doch von einem Tiroler Aus- und Einsiedler, einem alten Nomaden, hatte gar niemand
Fortsetzung Seite II

Kunde. Um ein Uhr morgens hatte ich mich satt gesehen, wollte fort aus dieser überlaufenen Einöde, da bat mich ein Mann an sein Lagerfeuer: Ganz in schäbiges Schwarz gekleidet, mit Wollmütze, braunhäutig, mit verfilztem Bart, besaß er nichts als ein kleines, 60 Jahre altes Motorfahrrad, ein Zelt, einen Schlafsack, ebendieses Feuer vor ihm, auf dem er zwei Würste briet - und Geschichten aus Afrika, Südamerika, Asien, aus 79 Ländern dieser Welt, die er in den vergangenen 30 Jahren auf gleiche Weise bereist hatte.

Jean-Claude hieß er, ein Kosmopolit in Lumpen, ein Weltstreicher fror da vor mir in der Mitternachtssonne, und er machte mir - im Austausch gegen meine neue Straßenkarte und drei Zigaretten - eine Anekdote zum Geschenk: Jean-Claude hatte China besucht, mehrmals, und war auf jeder Reise tiefer und tiefer ins Land eingedrungen. Endlich, in der Mandschurei, gelangte er in ein Dorf, so entlegen, so gottverlassen und parteivergessen, dass: ". . . die Menschen dort nichts von China wussten. Mitten in China, wussten sie nicht, was China ist. Bis zu meiner Ankunft wussten sie nicht einmal, dass sie Chinesen sind. Sie hielten sich einfach für - ich weiß nicht, was. Menschen." Dann stand Jean-Claude auf und machte mittels Selbstauslöser eine Aufnahme von sich und seiner Tretmaschine vor der nicht untergehenden Sonne.

Nicht zu wissen, in welchem Land man lebt. Zu keiner Nation gehörend, staatenlos, von keinen Grenzen gehalten - wenn es in Europa so ein Volk noch gibt, sind es wohl die Samen. Nomaden im Norden, weder Norweger noch Schweden, noch Finnen, noch Russen. Ich nahm Abschied, stieg in meinen Lada, ließ ihn diesen Felsen hinabrollen, hinaus aus dem reichen, teuren Norwegen. Im Leerlauf, um Benzin zu sparen für die Reise nach Utsjoki, nach Finnland. Dort, hoffte ich, weitab vom Verkehr mit Fremden, nur dort bei den Samen könnte der Tiroler sich niedergelassen haben, der ein einziges Mal gereist war - und niemals zurück.

UND SEHNTEN Sie sich jemals zurück nach Tirol? "Mei Bruder is zwar gstorbn, Verwandte hab ich noch in Deitschland, aba des is net so wichtig, weil Bekannte hab ich viele, und in Wörgl, da kennen mi die Leit." Ich sage besser nichts. Auf dem Tonband hört man mich betreten schweigen.

UTSJOKI. HINTER DER Grenze. Ich erwache in einer Flut von Rot - die Sonne brennt durch kirschfarbene Markisen in mein Mietzimmer, um elf Uhr nachts. Vor der Tür sieht die Welt zunächst grünlich aus, blass, als wäre ihr schlecht. 13 Stunden war ich unterwegs gewesen, vom Nordkap hierher, südwärts immer tiefer in den Fjord von Lakselv hinein, wo die Straße zwischen Felswänden und einem stürmischen Meer mäandert, dann durch endlose, verkrüppelte Kiefernwälder, an Flüssen entlang, die sich in engen Klüften fast schräg in den Fels fressen . . . Am Nachmittag, endlich in Utsjoki, in Finnland, wollte ich nichts als ein Bett, holte mir den Schlüssel an der Kasse im Supermarkt, wo mir der Zimmerwirt hechtartig meine letzten 20 Euro aus der Hand riss, noch ehe ich erfuhr, dass der nächste Bankomat 110 Kilometer weit entfernt ist. Dann schlief ich.

Das Dorf, eingekesselt zwischen zwei hohen Fjällbergen, wie vom Fluss hereingespült, lag jetzt verlassen. Utsjoki ist Kreisstadt der menschenärmsten Kommune in Finnland, wo weit mehr Rentiere als Menschen leben und mehr Samen als Finnen - die meisten der etwa 6000 im Fünf-Millionen-Staat Suomi. Den Pfarrer, die Polizei, den gierigen Zimmerwirt würde ich morgen nach dem Tiroler auskundschaften. Heute, kurz vor Mitternacht, blieb mir nur noch der Weg ins Pubi, in die einzige Schenke im Ort, dem Gejohle nach war sie noch offen.

Keine zwei Schluck lang saß ich allein, da winkte mich Kaisa an ihren Tisch. Eine zierliche Frau, die borstigen dunklen Haare zu einer Topffrisur geschoren, und ihr rundes Gesicht, das Gesicht einer Same, schien mir unterschwellig zornig. Ihre vielsprachige Gescheitheit lag zu jener Zeit, gen Mitternacht, im schweren Clinch mit ihrem Suff. Ich wurde mit ihrem Bruder Ilmari - einem bauchigen, bärtigen, behäbigen Fischer - und ihrem Mann - einem hageren Brillenträger, der ständig Wodka-Cola zu uns ins Freie schleppte - bekannt gemacht und mit dem Umstand, dass ihrem Auto zum Nachhausefahren das Benzin fehlte. Ich machte meinen Reservekanister anbötig, sie luden mich zum Rentierfleisch-Essen ein. Wann? Jetzt, sofort. - Im Haus von Ilmari war es eiskalt, ungastlich, und niemand legte die Kleider ab. Während er das Fleisch aus der Tiefkühltruhe barg, standen wir etwas beschämt in der Diele, Kaisa und ihr Mann stützten einander, mich beschlichen schon Zweifel. Da führte Ilmari uns wieder aus dem Haus, über den Hof, hinter den Stall. Dort stand sein Wohnzimmer: eine Kota, ein Lappenzelt. Ein Kegel aus jungen Birken, bedeckt mit Planen, oben ein rundes Loch. Er bat uns hinein, auf Rentierfellen zu sitzen, entzündete ein Feuer mit trockenem Heu und Birkenrinde, es wurde sogleich warm, und er begann schwerfällig und fauchend, das kaltgeräucherte Rentierfleisch zu teilen, über dem Feuer anzubraten, servierte es uns mit Preiselbeeren und Brot. Dann erst - konnten wir reden.

Und so erfuhr ich, dass Kaisa aus einer alten Samen-Familie stammt, wie ihr Mann. Dass sie Redakteurin im staatlichen Rundfunk sei, für das Programm in der Sprache der Samen, alle Länder im Norden bereist habe, dort gelebt, gearbeitet. Aber nun, in ihren Vierzigern, habe sie es satt, den Beruf, die Karriere, das Pendeln nach Inari und den Joik, das ist der jodelartige Gesang der Samen, kurz: alles. Denn Kinder würde sie nie mehr haben. Daher, vielleicht, ihr Zorn. Wenn ihr Mann von "Lappalaiset" - Lap-pen - sprach, ließ sie ihm das nicht durchgehen, raufte sich das Haar, grunzte: "Samelaiset" - Samen sind wir, und Lappen ist das alte, oktroyierte Wort, Lappe ist wie: Neger, Zigeuner.

Wenn Ilmari von der Rentierwirtschaft erzählte, da die Samen oft 400 Kilometer mit ihren Herden wanderten, unterbrach sie ihn und erzählte in epischer Ehrfurcht von ihrer Mutter, die solche Strapazen auf Skiern auf sich genommen, dabei ganz allein die Herde vor einem Wolf - Canis lupus, ergänzt Kaisas Mann kleinlaut - zu verteidigen hatte, eine Nacht und einen sonnenlosen Wintertag lang. "Skiing with wolves", sagte sie immer wieder, "Die mit dem Wolf Ski läuft", es klang wie ein tragisch-komisches Film-Remake, und wäre ich besoffen gewesen oder sie nüchtern, hätten wir sehr gelacht.

Jeder Same hatte Rentiere besessen, jeder Same hatte in Kotas gewohnt, "kleiner als diese, und ohne Plastik". Jeder Same hier hatte Familie, Kinder, viele Geschwister . . . "It was a hard life", seufzte Kaisa harsch durch den Rauch im Zelt, doch jetzt, im abklingenden Wodkarausch, meinte sie ihr eigenes Leben damit. - Erst im Auto zurück fragte ich nach dem Tiroler, der angeblich seit dem Krieg hier irgendwo . . . "Anton Neumeier, den meinst du." Kaisa wusste von ihm. In Inari habe er gelebt, sei von Haus zu Haus gezogen, als Knecht oder besser: Hirte. Als Rentiermann. Überall und nirgends. Anton Neumeier. Wo er jetzt wohl sei? "I believe", sagt Kaisa, "I believe Anton Neumeier is dead."

"IN UTSJOKI WOAST A?" Anton, der Totgeglaubte, lacht auf. "Mich kennens jo überoll. I war ja viel in Utsjoki. Da hab i selba schon Rentiere ghabt." Wie viele denn? (Die Lappen geben darüber nicht gerne Auskunft. "Genug zu beiden Seiten des Baumes", so lautet ihre nebulöse Antwort, wenn man sie nach der Zahl ihrer Rentiere - und also über ihr Vermögen - auskundschaften will.) "So ochtzgi, neinzgi werdns scho gwesen sein. Aba die reichsten, die Berglappen, dei hatten ja 3000 Stück. Mit dei simma gwandert. Wenn man kein Holz gfunden hat, dann wars zum Weitergehen." Anton hat 70 Winter in Lappland überlebt, ist mit Rentieren durch die Eiswüste, auf Skiern, bei 50 Grad, ohne festes Dach über dem Kopf. Wo haben Sie geschlafen? "Ja, im Zelt, in der Kota, da kannst da a Feua auch machn." Wovon ernährte man sich? "Zum Essen? Ja, die Rentiere. Die Rentier hamma abgstochn. Und verkauft haben wirs, für Lebensmittel, wenn ma in an Ort kommen sind. Zucker, Kaffee, Brot." Und hundert oder tausend Rentiere, gehen die nicht verloren, im endlosen Land? "Ja, die hütet man ja. Du passt auf, dass sie nicht zu weit gehen, gehst ihnen nach auf die Langlaufski."

UND WO KAM Anton Neumeier zum Stehen? Noch gestern musste ich fürchten, dass es ihn nicht mehr gibt, hatten das nicht alle gesagt? In Inari, ich fand dort einen Friedhof im Wald, und auf der Hälfte der Gräber standen Holzkreuze, und ihre Gravuren waren unleserlich. In der Kirche kannte man keinen alten Rentiermann aus Österreich, aber die Messnerin sagte mir, Inari habe einen deutschen Pfarrer ge-habt, Günther Schenk mit Namen, und wenn jemand von Anton wissen könnte, dann sei er es.

Als ich an das Haus von Günther Schenk kam, ein großes Blockhaus draußen in den Wäldern, durch den Regen gegangen war auf dem unbefahrbaren Waldweg, über einen gerümpelübersäten Hof, und die Hunde bellen hörte, hysterisch und heiser, hätte ich beinahe kehrtgemacht. Doch ich klopfte an die Tür, und ein Mann mit Augengläsern und wirrem rotem, grauem Haar und Bart öffnete mir, nein, er öffnete die Tür nur einen Spalt, und nahm das Auftauchen eines Österreichers hier am Ende der Welt ohne Anschein der Überraschung, gar der Freude hin. Er sah mich nicht an, sondern geduckt an mir vorbei und ließ mich an der Schwelle meine Frage nach Anton Neumeier herunterstammeln, ehe er "Nein, den gab es hier nie" sagte, dabei, die Tür
zu schließen. Ich bat ihn, sich zu erin-nern. "Bei Hetta, in Nunnanen, das kann sein", zischte er durch den Spalt. Meine Abschiedsworte prallten von der geschlossenen Tür ab.

Aber er hatte die Wahrheit gesagt. In Nunnanen fragte ich mich durch zu jenem kleinen Holzhaus, das Anton gehört. Durch das Fenster sah ich eine Leselupe, Zigarettentabak, einen Radiowecker, ein Bett am hinteren Ende des Raumes, vielleicht drei mal vier Meter groß, einen gemauerten Kamin, das vergilbte Bild einer Bergstraße, einen großen Herd, Kübeln mit Wasser, aufgerollte Teppiche, einen geschnitzten Schemel, eine Kuhglocke an der Decke, unzählige Messer, einen alten, speckigen Rucksack und eine Tasse auf der Fensterbank. Auf der stand: ANTON. Ich fühlte mich unverschämt dabei, so in seine Habe, sein Leben zu glotzen, aber nach all den Tagen konnte ich nicht anders: Er wohnte hier. Anton wohnt hier.

Da rief mich die Nachbarin an, über die Straße. Ich erklärte, ich suche nach Anton Neumeier, meinem Landsmann. [*]

Thomas Brunnsteiner, Jahrgang 1974, aufgewachsen in Graz, begann mit journalistischen Arbeiten für die "Neue Zeit". Wanderte 1998 aus, zunächst nach Rom und Moskau, schließlich nach Finnland. Lebt als freier Journalist und Autor in dem Dorf Venejärvi in Lappland.

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