Der Fall Zeileis

Gallspach, Oberösterreich.
365 Meter Seehöhe, 2462 Einwohner, eine Kirche, ein Schloss, eine Tennisanlage, ein Erlebnisbad. Und das Institut Zeileis. Vom Kurpfuscher- zum Kurbetrieb: eine Visite.

Sie reisen nach Gallspach? Kein Problem. "Wenn Sie mit dem Flugzeug kommen, landen Sie in Linz oder Salzburg, wenn Sie mit der Bahn kommen, hält der Schnellzug in Wels oder Grieskirchen, mit dem Auto oder Bus nehmen Sie die Abfahrt Meggenhofen/
Gallspach auf der Innviertler Autobahn A8." Der Werbeprospekt des kleinen oberösterreichischen Ortes reklamiert selbstbewusst seine Lage "im Herzen Europas". Was gibt's über Gallspach sonst noch zu sagen? 365 Meter Seehöhe, 2462 Einwohner, Kurort, eine Kirche, ein Schloss, eine Tennisanlage, ein Erlebnisbad.

Neulich waren wir in Gallspach. Der Anlass war kein Lungenleiden, kein Bandscheibenvorfall und keine Gastritis, sondern eine kleine Neugierde, die mir der österreichische Schriftsteller und Journalist Soma Morgenstern (1890 bis 1976) eingepflanzt hatte. Ich war in seinen Feuilletons auf einen eigenartigen Bericht aus dem Jahre 1930 über Gallspach gestoßen. Er hatte den Text für die "Frankfurter Zeitung" geschrieben.

Die Geschichte spielt in der oberösterreichischen Provinz und ist faszinierend: Ein aus Wien zugewanderter Wunderdoktor lässt sich in den Zwanzigerjahren in Gallspach nieder und verwandelt den verschlafenen Ort innerhalb kürzester Zeit in ein Mekka der Kranken. Mit einem selbstgebauten elektromagnetischen Apparat kuriert er zuerst Hunderte, bald Tausende, schließlich Zehntausende. 1924 fasst sein Wartezimmer bereits 50 Personen, 1926 wurde für 200 Patienten Platz geschaffen. 1929 entsteht ein gewaltiger Neubau, nun kann er bis zu 1500 Personen pro Tag abfertigen.

Immer mehr Leidende pilgern nach Gallspach. Der "Doktor" wird zum Millionär, im Ort bricht Goldgräberstimmung aus. Ein Bauboom beginnt, ein neuer Ortsteil entsteht rund um sein "Institut", zahlreiche Hotels, Gasthäuser und Pensionen schießen aus dem Boden. Anfang der Dreißigerjahre ist Gallspach nicht wiederzuerkennen. Aus dem armen Bauerndorf ist ein reicher Kurort geworden. Soma Morgenstern: "Geldsucher scharen sich um den Apostel der ,Radiumkuren', einheimische Goldsucher, denen der Glaube an Zeileis dessen ,Radiumbergwerk' von Alaska - oder Indien? - direkt nach Gallspach versetzt." Das Wohl des Ortes hatte einen Namen: Valentin Zeileis.

In Gallspach geschehen Wunder. Fall eins: Ein Metallarbeiter aus Berndorf in Niederösterreich hat vor 26 Jahren das Augenlicht verloren. Siebenmal ist er vergebens nach Gallspach gekommen, dann dringt plötzlich mitten während einer Behandlung Licht in seine Augen, und der Blinde sieht. Fall zwei: Ein schlanker junger Mann fällt im Tanzcaf© in Gallspach durch seine eleganten Bewegungen auf. Vor zwei Jahren ist der Mann im Rollstuhl hergebracht worden, unfähig auch nur ein Bein zu rühren. Fall drei: Eine schwedische Dame, auch sie am ganzen Körper gelähmt, nicht einmal die Nase konnte sie sich putzen, ist vor fünf Jahren nach Gallspach gekommen. Auch sie ist geheilt. Fall vier: Eine schwer Lungenkranke ist nach zweimonatiger Behandlung imstande, fieber- und beschwerdefrei ihrem anstrengenden Beruf nachzugehen. Fall fünf: Dem Krebsleiden einer sichtlich dahinwelkenden etwa 50-jährigen Dame wird durch mehrwöchige Behandlung so erfolgreich entgegengearbeitet, dass die Kranke verjüngt, ja wie in einen anderen Menschen verwandelt erscheint. - Diese wundersamen Krankenberichte sind dem Büchlein "Gallspach. Das Mekka der Kranken" entnommen, das 1931 erschien. Als Autor ist ein gewisser Asmodi angeführt, als Verlag die Buchhandlung "Zum Menschenfreund", die ihren Sitz "neben dem Institut Zeileis" hatte.

Die Broschüre war als Antwort auf die in der Öffentlichkeit immer heftiger werdende Kritik an Zeileis' Methode gedacht. Am 26. September 1929, inmitten der Bauarbeiten für sein neues Gallspacher Institut, hatte Zeileis hohen Besuch aus Berlin erhalten. Der Medizinprofessor Paul Lazarus war angereist, um sich ein Bild von den ungewohnten Methoden des selbsternannten Doktors zu machen.

Zeileis hatte die Schulmedizin aufgeschreckt. Bereits 1924 hatte der Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg ein vernichtendes Urteil über Zeileis geliefert. Nun wiederholte Lazarus diese Einschätzung. Das, was in Gallspach vorgehe, habe mit Wissenschaft nichts zu tun. In Vorträgen und Radiobeiträgen wetterte der Berliner Professor gegen das Gallspacher Experiment. Zeileis antwortete mit Klagen. Der Konflikt spitzte sich zu und verlagerte sich in die Presse. Eine Lawine der Berichterstattung kam ins Rollen. Journalisten belagerten den Ort, Fotografen dokumentierten das Geschehen. Mehr als 700 Artikel erschienen 1930 innerhalb weniger Monate in der österreichischen und ausländischen Presse.

"Der Fall Zeileis", resümierte Morgenstern Ende 1930, "ist nun in aller Öffentlichkeit die Sensation geworden, die er auch ohne ,Öffentlichkeit' schon lange gewesen ist. Valentin Zeileis ist der Mann, den die österreichische Seele seit Generationen gesucht und endlich gefunden hat. Der Mann, der dank der teils göttlichen, teils ,wissenschaftlichen' Heilkraft, die sich in Strahlen manifestiert, zum Erlöser der Fremdenindustrie geworden ist." Und mit ironischem Unterton setzte er hinzu: "Geografisch mag also Gallspach ein kleines Dorf in Oberösterreich sein, mental ist Gallspach ein Punkt, aus dem ein ganzes Staatswesen wenn nicht zu kurieren, so doch zu sanieren wäre."

Wir stellen das Auto vor dem "Bayrischen Hof", dem größten von insgesamt zehn Hotels des Ortes, ab. Ein wenig bin ich enttäuscht. Ich gebe zu: Den Ort habe ich mir anders vorgestellt - größer, belebter, interessanter. Aber immerhin: Die Gemeinde kommt auf 124.000 Nächtigungen im Jahr. Die Goldgräberstimmung der Zwanziger- und Dreißigerjahre ist allerdings ganz und gar verflogen. Den ehemaligen Bauboom kann man nur mehr hinter angegrauten Fassaden erahnen, Gallspach ist ein ganz normales österreichisches Dorf geworden. Der berühmte "Bayrische Hof" hat sich in einen Allerwelts-Dorfgasthof zurückverwandelt, wie es landauf, landab viele gibt. Kaum zu glauben, dass in diesem Kurhotel in besseren Zeiten die Wiener Sängerknaben ein und aus gingen. Die einst elegante Kaffeepension "Mariandl" mit ihrer Musikbox im Keller hat die aufregenden Zeiten längst hinter sich. Sie scheint dem Verfall preisgegeben.

Wir spazieren durch das Dorf. In den Fünfzigerjahren hatte Gallspach 1700 Einwohner - und darüber hinaus noch einiges mehr: eine Apotheke, drei Bäckereien, zehn Kaufläden, ein Kino (das Tonkino wurde 1931 eröffnet), zwei Modewarenhäuser (eines davon namens "Amazone"), mehrere Friseure, zwei Drogerien (eine mit Parfümerie), mehrere Kaffeehäuser, zwei Papier- und Buchhandlungen, zwei Malerwerkstätten, sechs Schneidereien, drei Schuhmacher, zwei Schlosser, zwei Spenglereien, zwei Tischlereien, ein Möbelhaus, einen Uhrmacher, ein Radiogeschäft, eine Delikatessenhandlung namens "Schatz", ein Postamt, eine Sparkasse, eine Raiffeisenkasse, eine Autowerkstätte und ein Elektrogeschäft. Bald darauf folgten ein Massage- und Kosmetiksalon, ein Fotostudio, die Fernsehdiele im Caf© Wien, die Shell-Tankstelle, die Tanzbar "Till Eulenspiegel" und das Freibad. Das Freibad gibt es immer noch, das Kino suchen wir vergebens, ebenso die Buchhandlung, die zehn Kaufläden, die drei Schuhmacher et cetera.

In der Eingangshalle des Instituts Zeileis, einem großen, hellen Raum mit elegant geschwungenen Holzbänken, hat sich seit der Ersteinrichtung in den Dreißigerjahren nicht viel verändert. Immer noch folgt der therapeutische Ablauf dem alten Muster: "Die Damen sammeln sich auf der linken, die Herren auf der rechten Seite der Wartehalle", heißt es in einem Zeileis-Führer, der zwischen 1952 und 1970 in sechs Auflagen erschien. "Symmetrisch befinden sich auf beiden Seiten gegen die Auskleideräume Türen, die fallweise einmal da, einmal dort geöffnet werden. Nun schreitet man weiter, und schon am Eingang des Auskleideraumes fordern die diensthabenden Angestellten die neuen Patienten auf, sich auf bestimmt Plätze zu begeben. Kaum haben sich die Patienten so weit vorbereitet, geht auch schon die Tür zum Behandlungsraum auf, in den nun alle hineinströmen. An der Tür steht Dr. Zeileis mit den behandelnden Ärzten und begibt sich dann zum Bestrahlungsapparat. Ein Patient nach dem anderen wird bestrahlt und der Reihe nach durch alle Apparate geführt. Die Neuangekommenen bleiben bis zum Schluss und werden mit dem so berühmten Stab untersucht, wonach sie eine Notiz über ihren Befund und Behandlungsvorschläge erhalten, die sie an der Kanzleien abzugeben haben."

Ein paar Minuten elektromagnetische Wellen pro Behandlung - im Prinzip hat sich die Zeileis-Methode bis heute nicht grundlegend geändert. Und dennoch: Aus dem heftig umfehdeten Kurpfuscherbetrieb ist inzwischen ein behäbiger Kurbetrieb geworden. Die Esoterik wird nun erfolgreich in den Mantel der Wissenschaft gekleidet, und man setzt alles daran, sich nicht mehr in Opposition zur Schulmedizin zu bringen.

Herr Georg Zeileis, ein freundlicher Spross der Zeileis-Dynastie, empfängt uns im Eingangsbereich und führt uns durch die Institutsräume und schließlich in das kleine Museum, das 1992 eingerichtet wurde. Am 23. Dezember 1929, erklärt er, sei das neue "Institut Zeileis" eröffnet worden. Ein Modell zeigt den gewaltigen Neubau, Fassadenlänge 50 Meter. Die Zeiten, als bis zu 1500 Kurgäste am Tag behandelt worden sind, seien längst vorbei, heute sind es nur mehr maximal 500 am Tag: "Man nimmt sich inzwischen mehr Zeit für die Kranken."

Betreut werden vorwiegend Senioren, 55 Prozent der Gäste kommen aus Österreich, der Rest aus dem Ausland. Immer noch, so Herr Zeileis stolz, ist das Institut im Familienbesitz. Und immer noch habe man Expansionspläne: Demnächst soll auf dem Gelände neben dem Institut ein Viereinhalb-Sterne-Hotel mit zwei Schwimmbädern gebaut werden. Während er redet, hat Herr Zeileis eines der inzwischen ausgemusterten Museumsstücke in Gang gesetzt. Mit dem elektrisch geladenen Stab fährt er mir über Arm und Schulter. Keine Angst! Mehr als 600.000 Patienten wurden bereits so behandelt. Es knistert. Der insgeheim befürchtete Stromschlag bleibt aus. Das war's. [*]

Geboren 1964 in Südtirol, Dr. phil., arbeitet als freiberuflicher Kultur- und Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator. Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". Bücher: zuletzt "Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie" (Jonas Verlag).

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