Vernachlässigung schlägt Kindern seelische Wunden

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Symbolbild(c) FABRY Clemens
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Auch emotionaler Missbrauch ist ein Traumafaktor für Buben und Mädchen. Die Traumapädagogik hilft seelisch verletzten Kindern und Jugendlichen.

Ein Massaker, wie es der Batman-Amokläufer von Colorado angerichtet hat, hätte unter Umständen vielleicht verhindert werden können. Unter Umständen, wenn früh genug psychiatrische Experten ins Spiel gekommen wären.

„Ein Kind, das von den Eltern jahrelang geschlagen wird, findet das vielleicht eine Zeit lang normal. Oder es fühlt sich schuldig, weil es glaubt, unartig gewesen zu sein und daher die Prügel zu verdienen. Es gibt auch Phasen der Loyalität mit den Tätern, also den schlagenden Eltern, die meist selbst psychisch gestört und/oder traumatisiert sind. Dann aber, in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter, kippt das Ganze. Das einst regelmäßig geschlagene Kind prügelt, läuft Amok, gegen Eltern, gegen Lehrer, wahllos auf der Straße oder vielleicht eben im Kino“, erläutert Michaela Halper, Geschäftsführerin des österreichischen Traumapädagogikzentrums im steirischen Stainz.

Fürsorge und Geborgenheit geben

„Menschen, die in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben, brauchen frühzeitig ein umfassendes Behandlungskonzept aus Pädagogik und Therapie, das auf die Probleme des Einzelnen individuell abgestimmt ist, Defizite ausgleicht und die Bedürfnisse des Betroffenen abdeckt“, sagt Halper. Die Traumapädagogik, ein Sammelbegriff aus Elementen der Psychotraumatologie, Bindungspädagogik und Ressourcenaktivierung, versucht, seelisch verletzten Kindern, Jugendlichen, aber auch jungen Erwachsenen Fürsorge, Geborgenheit und einen sicheren Ort zu geben, ihnen das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu nehmen und einen emotionalen Nachreifeprozess zu ermöglichen.

Je früher in Sozialeinrichtungen mit einer traumaspezifischen Betreuung begonnen wird, desto besser sind die Prognosen für seelisch verletzte Kinder und Jugendliche. Halper: „Die Traumapädagogik versteht sich hier als eine ergänzende Begleitung zur Therapie.“ Es geht unter anderem auch um die Förderung der Alltagsstabilität sowie um das Verstehen und die rechtzeitige Korrektur von negativen Verhaltensweisen wie Wutausbrüchen, Aggressionswellen, Um-sich-Schlagen, Zerstörwut. „Das kann verschiedene Ursachen haben“, weiß Halper. Zum Beispiel sogenannte Flashbacks. Da kippen Kinder von einer Sekunde auf die andere plötzlich um. „Sie befinden sich plötzlich wieder in der traumatisierenden Situation und erleben das Trauma noch einmal durch, beispielsweise die Situation des Missbrauchs. Da werfen sie sich dann auf den Boden, toben, schreien, schlagen.“

Achtjähriger als „Herr im Haus“

Missbrauch muss nicht immer sexueller Natur sein, es gibt auch den emotionalen Missbrauch. „Wenn etwa Eltern sagen, sie hätten ihren Sohn, ihre Tochter nur lieb, wenn er, wenn sie das oder jenes tut, diese Eltern gehen über Erpressung, missbrauchen die Kinder für ihre eigenen Bedürfnisse.“

Eine andere Art emotionalen Missbrauchs ist es, wenn vor allem alleinstehende Mütter ihre Söhne als Partnerersatz verwenden. Da hört der Sechs- oder Achtjährige dann immer wieder, er habe zu funktionieren wie ein Mann, er sei der Herr im Haus. Und der 14- oder 16-Jährige hört immer wieder, er müsse dableiben, dürfe nicht weggehen, weil es dann der Mutter schlecht gehe. Freilich kommt es da auch immer wieder zu sexuellen Übergriffen. Halper: „Früher waren es vorwiegend Mädchen, die sexuell missbraucht worden sind. Aber in den letzten vier Jahren beobachten wir einen sprunghaften Anstieg bei der Zahl der sexuell missbrauchten Buben.“

Traumapädagogen üben mit den Betroffenen aber auch alltägliche Fertigkeiten, zum Beispiel Grüßen oder Körperhygiene. „Traumatisierte Kinder und Jugendliche duschen vielleicht zehnmal am Tag, manche aber gar nicht. Weil sie das nie gelernt haben, weil niemand da war, der sich um sie gekümmert hat. Vernachlässigung ist überhaupt ein großes Thema.“

Dann passieren schreckliche Dinge

Bei 72 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die wegen eines Traumas in Behandlung sind, ist grobe Vernachlässigung ein Traumafaktor. „Diese Kinder sind oft aus gutem Haus, aber die Eltern haben keine Zeit für den Nachwuchs. Oder sie können die Bedürfnisse der Kinder nicht erkennen. Wenn etwa der Säugling schreit, haben viele Eltern keine Ahnung, ob er es tut, weil er Bauchweh, Hunger oder die Windeln voll hat. Und weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, tun sie gar nichts, lassen das Baby liegen und schreien.“ Derlei Vernachlässigung aber ist für den jungen Erdenbürger ein großes Trauma, das er ins Jugend- und Erwachsenenalter mitnimmt.

Diese Vernachlässigung, meint Halper, sei auch Zeichen unserer schnelllebigen, hoch leistungsorientierten Zeit. „Es gibt immer weniger Werte, weniger Traditionen, kaum noch Rituale, die aber für die Entwicklung eines Menschen so wichtig sind“, sagt die Traumapädagogin und bedauert, dass schätzungsweise nur rund einem Drittel aller Kinder, die missbraucht, geschlagen oder vernachlässigt werden, geholfen wird. „Die anderen werden nicht erfasst, quälen sich mit ihrem Trauma herum und dann passieren solch schreckliche Dinge wie in Colorado.“

Auf einen Blick

Kinder, die geschlagen, vernachlässigt oder missbraucht werden, erleiden ein Trauma, das auch zu einem Amoklauf führen kann.Die Traumapädagogikwill diesen seelisch verletzten Kindern helfen und ihnen unter anderem Geborgenheit bieten.

WEITERE INFORMATIONEN UNTER

www.traumapaedagogik.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2012)

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