USA: Die Fettepidemie

Fettepidemie
Fettepidemie(c) AP (JAIME PUEBLA)
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In den USA hat sich First Lady Michelle Obama dem Kampf gegen Fettleibigkeit verschrieben - ein Kampf gegen die Esskultur. Jedes dritte Kind gilt als adipös. Doch erste Erfolge haben sich längst eingestellt

Alles an Gabourey Sidibe ist XXXL, „oversize“, übergroß: ihr Mondgesicht, ihre wulstigen Oberarme, ihre Kleidergröße – und ihr Selbstvertrauen. Ohne jede Scheu, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, trägt die 26-Jährige ihre Fettpolster und ihre überquellenden Formen zur Schau. Ob auf dem roten Teppich, im Rampenlicht von Galas und Talkshows: Sie lacht, sie strahlt, sie reißt Witze. Sie kostet den Ruhm in vollen Zügen aus.

„Es ist mein Cinderella-Moment“, sagt die Laienschauspielerin, die katapultartig zur Celebrity aufgestiegen ist. Bis vor Kurzem hat sie noch als Telefonistin in einem Callcenter gejobbt, um sich ihr Psychologiestudium zu finanzieren. „Ich fühle mich wie in einer Märchenwelt.“

Wer weiß, wie lange ihr Glück noch währen wird? Howard Stern, das provokante Lästermaul unter den US-Radio-Talkmastern, nannte sie fern jeder Political Correctness die „gewaltigste fette schwarze Tussi, die ich je gesehen habe“. Und das will etwas heißen. Zugleich stellte er ihre beruflichen Perspektiven in Hollywood infrage: „In welchem Film soll sie denn spielen?“

In der Traumfabrik, in der der Personal Trainer und die South-Beach-Diät zum Rüstzeug eines jeden besseren Starlets gehören, erscheint Sidibe wie ein Freak aus einer fremden Galaxie. Aber sie lässt sich davon nicht beirren: „Ich möchte einmal auch romantische Rollen übernehmen, ich möchte die Industrie ändern.“ Sie wirkt wie das Gegenteil jener Figur, die sie in „Precious“ verkörpert: eines 16-jährigen Mädchens, vom Vater vergewaltigt, von der Mutter gequält, eine halbe Analphabetin, schwanger und mit dem Aidsvirus infiziert – eine Horrorgeschichte aus dem schwarzen Ghetto.

Fett, na und! Fast 170 Kilo bringt „Gabby“, wie alle Welt sie jetzt nennt, auf die Waage. Als Kind habe sie mit ihrem Anderssein gehadert, erzählt sie jedem, der es hören will – und die US-Medien sind gierig danach. „Ich dachte immer, etwas ist falsch mit mir. Es hat beinahe mein gesamtes Leben gedauert, mich wohl in meiner Haut zu fühlen. Irgendwann habe ich beschlossen, mich so zu mögen, wie ich bin“, lautet ihr Credo, das sie zum Leitbild einer Bewegung macht, die den Schlankheitswahn unterläuft. „Fett. Na und!“, heißt ein Ratgeberbuch der Autorin Marilyn Wann, das im Untertitel programmatisch verspricht: „Du kannst glücklich, gesund, erfolgreich – und fett sein.“ Es ist so etwas wie die Bibel der Fat-Acceptance-Community – jener Menschen, die gelernt haben, mit ihrer Fettleibigkeit zu leben.

Dicke seien Opfer einer gesellschaftlichen Stigmatisierung, klagt Wann. Woche für Woche stellen die an der Supermarktkassa griffbereiten Sudelblätter Promis vom Schlage der Moderatorin Oprah Winfrey oder der Schauspielerin Kristie Alley, die sichtlich unter ihrem Übergewicht und dem Jo-Jo-Effekt leiden, hämisch an den Pranger. In Internetblogs wabern regelrechte Tiraden. Regina Benjamin, rundliche Chefin des US-Gesundheitsdienstes – eine afroamerikanische Ärztin aus dem Südstaat Alabama – geriet gleich nach ihrer Bestellung zum Objekt des Spotts. Sie will es sich und ihren Kritikern zeigen: Im nächsten Jahr hat sie es sich zum Ziel gesetzt, den Kilimandscharo zu besteigen.


Mehrheit ist unglücklich. Fett – und auch noch stolz darauf: Das ist in den USA denn auch nur eine Minderheit. Die große Mehrheit ist unglücklich über ihr Übergewicht und setzt alles daran, wenigstens ein paar Pfunde abzuspecken. Im Fernsehen ist die Reality Show „The Biggest Loser“ zum Hit avanciert: Gewinner ist der, der am meisten abnimmt. „Ich fühle mich wie ein neuer Mensch“, jubelte der runderneuerte Sieger nach exzessivem Fitnesstraining und monatelanger strikter Diät. Nach dem Verlust von 108 Kilo, mehr als der Hälfte seines Körpergewichts, war Danny Cahill tatsächlich kaum noch wiederzuerkennen.

Zwei Drittel der Amerikaner gelten nach den Kriterien des Body-Mass-Index, der die Körpergröße in Relation zum Gewicht setzt, als übergewichtig. Es ist ein Trend, der sich seit Langem abzeichnet – und der Hauptgrund, warum die Armee Wehrdienstwillige wieder nach Hause schickt. Marilyn Wann und ihre Mitstreiter kritisieren die Parameter indes als zu rigoros und die Studie ergo als einseitig. Umstritten sind auch die Folgekosten für das Gesundheitssystem, die Experten mit jährlich 147 Milliarden Dollar beziffern. Eindeutig hingegen sind die Bevölkerungsgruppen, die überproportional betroffen sind: weniger Gebildete, Südstaatenbewohner und Minderheiten – Latinos und Schwarze.

Alarmiert hat die Nation ein anderer Befund: Laut des „Center for Disease Control and Prevention“ ist ein Drittel der Kinder als adipös, als fettleibig, einzustufen. Bei den Zwölf- bis 19-Jährigen hat sich die Quote seit 1980 sogar verdreifacht. Selbst in den von Weißen dominierten wohlhabenderen Vorstädten grassiert der Trend. Ärzte sprechen von einer Epidemie, Gesundheitspolitiker von einer „nationalen Katastrophe“. Hoher Blutdruck und hohe Cholesterinwerte sind die Begleiterscheinungen, die das Risiko für Herzinfarkt und Diabetes beträchtlich steigern. Die Gefahr eines vorzeitigen Todes, besagt eine Studie, sei doppelt so hoch wie bei Normalgewichtigen – Übergewicht sei möglicherweise sogar eine noch größere Bedrohung für die Gesundheit als Rauchen.

Für die zwölfjährige Latrisha Avery ist Gabby Sidibe ein abschreckendes Beispiel. „Ich wollte nur essen, essen, essen. Backhähnchen und Pommes Frites, das volle Programm. Erst recht, als meine Oma starb. Ich bin richtig depressiv geworden“, erzählt sie. „Die Mitschüler haben mich gehänselt. Für sie war ich King Kong. Ich habe mir die Augen ausgeweint.“ Inzwischen besucht das schwarze Mädchen einen Fitnesskurs, zählt Kalorien, greift bei Heißhunger zur Karotte und meidet Junkfood. Das Programm bietet einen Ernährungskurs, Tanz und Yoga für adipöse Kinder an. Ihr Gewicht hat Latrisha auf knapp 90 Kilo gedrückt. „Aber zehn Kilo müssen noch runter.“


Süßigkeiten wegsperren. In einer Serie der „Washington Post“ sparten Lehrer, Schulärzte und Psychologen nicht mit schockierenden Details aus der Schulwelt: kurzatmige Kinder, die wegen Fettleibigkeit ihre Schuhe nicht mehr binden könnten; die zu passiv seien, um Sport zu treiben; die Cheeseburger, Chips und Cola in sich hineinschaufeln würden. Dass Mütter Süßigkeiten wegsperren, ist beileibe keine Seltenheit.

Sieben bis acht Stunden täglich verbringen Acht- bis 18-Jährige durchschnittlich vor dem TV-Apparat, dem Computer und der Spielkonsole, zitierte „Newsweek“ aus einer Untersuchung. Wegen Minderwertigkeitsgefühlen trauen sich viele nicht mehr ins Freie. „Den Kindern wird die Kindheit geraubt“, konstatiert die Wissenschaftlerin Melinda Sothern.

David Quiroz hatte sich in der Schule zum Ringen angemeldet. Aber in seiner Gewichtsklasse fand sich kein Partner für ihn. Zum Trainieren hat Marisol Quiroz ihrem Sohn ein Laufband, ein Fahrrad und einen Sandsack gekauft. Doch der Zwölfjährige, fast 100 Kilo schwer, hat die Sachen kaum angerührt. David schaut lieber „Food Network“ – einen TV-Sender, in dem es ums Essen geht. Der Zahnarztassistentin und ihrem Mann, einem Krankenpfleger, bleibt wenig Zeit für die Familie. Um die Raten für ihr Haus in Potomac abzuzahlen, arbeiten die beiden Einwanderer aus der Dominikanischen Republik oft bis spätabends.

Marisol Quiroz hat mit ihrem Sohn schließlich die Ärztin Nazrat Mirza im Washingtoner Stadtteil Adams Morgan konsultiert. Die aus Kenia stammende Medizinerin, unter deren Patienten vor allem Latinos sind, hat ihnen ein Familienprogramm auferlegt: eine Umstellung der Ernährung; weniger Weißbrot, mehr Fisch; selbst kochen statt ins Fastfood-Restaurant zu gehen. Sie weiß, dass traditionelle Diätmethoden nur eine Erfolgsrate von einem Prozent haben. Darum empfiehlt sie kleine, aber konsequente Schritte. Seither trägt David einen Pedometer, der sein Bewegungspensum misst. An guten Tagen schafft er jetzt immerhin 5000 Schritte. Dreimal die Woche chauffiert ihn seine Mutter in ein Fitnessstudio. „Ich fühle mich besser, seit ich abgenommen habe“, sagt David.

Auf ganz schwere Fälle hat sich die Wellspring Academy in Brevard spezialisiert. Die „Fat School“ in den Hügeln North Carolinas verzeichnet dank drakonischen Regiments samt Salatbuffet und Fitnesstraining nach einem Schuljahr einen durchschnittlichen Gewichtsverlust pro Zögling von 37 Kilo. Jedes heruntergeschwitzte Kilo ist bei einer Monatsgebühr von 6250 Dollar ziemlich teuer erkämpft.

Billiger gibt es First Lady Michelle Obama. Am South Lawn des Weißen Hauses hat sie einen Gemüsegarten angelegt. Als disziplinierter Fitnessapostel geht die 46-Jährige mit gutem Beispiel voran. Nun hat sie unter dem Motto „Let's move“ eine Kampagne gegen das Übergewicht bei Kindern lanciert, in der es vor allem darum geht, Ernährungsgewohnheiten umzustellen und die Schulkost qualitativ zu verbessern. Eine bessere Botschafterin könnte es nicht geben, obwohl sie zuweilen selbst gerne einen Burger verschlingt. „Wir können die Uhr nicht zurückdrehen in eine Zeit, als Mütter ein fünfgängiges Abendessen auf den Tisch gebracht haben und Kinder stundenlang im Freien gespielt haben“, erklärte sie.


Salat im Angebot. Michelle Obama klingt wie ihr Mann, wenn sie sagt: „Es wird nicht leicht sein, und es wird nicht schnell gehen. Aber täuscht euch nicht: Wir können das Problem lösen. Es ist nicht so, als würden wir einen Mann zum Mond schicken. Wir haben alles, was wir brauchen, um unseren Kindern zu helfen, ein gesundes Leben zu führen.“ Erste Erfolge haben sich längst eingestellt. Die Fastfoodketten führen Salate im Angebot, in den Supermärkten wimmelt es von Low-Fat-Produkten und die Softdrink-Produzenten reduzieren den Zuckergehalt. Der Zeitgeist folgt Michelle Obama, nicht Gabby Sidibe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2010)

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