„Multiple Sklerose“: Ein Leben ohne Rollstuhl

(c) APA (BARBARA GINDL)
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Die Behandlung von MS macht zügig Fortschritte. Fachleute rechnen damit, dass immer weniger Patienten im Rollstuhl landen. Jetzt geht es um Tabletten gegen die Schübe. Sie sind eine große Hoffnung für Betroffene.

Göteborg/Wien. Die Diagnose „Multiple Sklerose“ schlägt oft ein wie ein Blitz: Betroffen sind vor allem junge Menschen zwischen 20 und 40. Sie müssen erfahren, dass sie an einer unheilbaren Nervenkrankheit leiden, die zu schweren Behinderungen führen kann. Insgesamt sind in Österreich 8000 bis 10.000 Menschen betroffen.

Beim größten europäischen Multiple-Sklerose-Kongress, dem Ectrims (European Committee for Treatment and Research in MS) in Göteborg, diskutierten rund 7000 Forscher und Ärzte über Nutzen und Risken neuer Medikamente, die Krankheitsschübe verhindern und den Betroffenen ein Leben im Rollstuhl ersparen sollen.

Es hat sich viel getan bei der Therapie der Multiplen Sklerose, seit 1994/95 die ersten Injektionstherapien mit Interferon beta zugelassen wurden, die die Frequenz der Schübe um ein Drittel reduzieren und so das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Diese Langzeittherapien helfen den etwa 80 bis 90 Prozent der Patienten, bei denen die Krankheit schubartig verläuft (anfangs liegen zwischen den einzelnen Schüben oft Monate). Beim schubförmigen Verlauf ging das Leiden früher (ohne Therapie) nach Jahren in eine chronisch fortschreitende MS über, heute dauert das dank moderner Medikamente Jahrzehnte.

Größte Angst: Mobilitätsverlust

Die Angst vor dem Leben im Rollstuhl – dieses Damoklesschwert ist für 70 Prozent der MS-Patienten die größte Bürde. Das zeigt eine internationale Umfrage der amerikanischen Firma Biogen Idec. „Früher sind 70 bis 80 Prozent der Patienten mit sekundär chronisch progredientem Krankheitsverlauf rollstuhlpflichtig geworden. Aufgrund der neuen Therapien rechnet man mit erheblich weniger Patienten, die einen Rollstuhl brauchen werden“, betont Univ.-Prof. Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose an der Medizinischen Universität Innsbruck sowie Leiter der größten MS-Ambulanz in Mitteleuropa.

Biogen Idec hat jetzt eine neue Retard-Tablette mit dem Wirkstoff Fampridin zur Verbesserung der Gehfähigkeit auf den Markt gebracht, die in den USA seit Jänner 2010 zugelassen ist (in Österreich noch nicht). Die Tablette kann das Fortschreiten der Krankheit nicht aufhalten. Bei mehr als 40 Prozent der Patienten verbessert sich aber die Gehfähigkeit.

Ein Schwerpunkt in Göteborg waren auch die ersten Tabletten zur Verhinderung von MS-Schüben. Sie sind eine große Hoffnung für Betroffene, die das tägliche oder mehrwöchige Spritzen der bisherigen Schubtherapie nicht mehr vertragen. „Wenn ein orales Medikament genauso gut wirkt wie Interferone, die ja gespritzt werden müssen, wäre das ein Durchbruch in der MS-Therapie“, meint der Neuropathologe Univ.-Prof. Hans Lassmann vom Institut für Hirnforschung in Wien.

Die Nase vorn hat da im Moment der Schweizer Pharmariese Novartis, dessen MS-Tablette als einzige in den USA bereits seit September 2010 zugelassen ist. Der Wirkstoff Fingolimod hat sich bereits in der Transplantationsmedizin bewährt. Er verhindert, dass Immunzellen, die irrtümlich die Nerven zerstören, aus den Lymphknoten austreten und über die Blutbahn ins Gehirn gelangen. Auch der französische Pharmakonzern Sanofi-Aventis präsentierte eine Phase-III-Studie mit einer MS-Tablette, die Schübe um ein Drittel reduziert.

Wie sicher sind MS-Pillen?

Ein großes Problem ist allerdings die Sicherheit der neuen MS-Pillen, die in das Abwehrsystem eingreifen. So hat kürzlich die europäische Zulassungsbehörde Emea Cladribin, eine MS-Pille der deutschen Firma Merck, nicht zugelassen, weil das Tumorrisiko erhöht war. „Man sollte trotz potenzieller Risken betroffenen Menschen wirkungsvolle Therapien nicht vorenthalten“, widerspricht Prim. Ulf Baumhackl, Neurologe und Vize-Präsident der Österreichischen MS-Gesellschaft. Patienten, die die bewährten Spritzentherapien gut vertragen, rät er allerdings davon ab, auf ein orales Medikament umzusteigen, von dem es keine Langzeitstudien gibt.

„Man muss den richtigen Patienten zur richtigen Zeit mit dem richtigen Medikament behandeln“, meint Berger. Er hat seit Oktober 2006 achtzig Patienten mit einer biologischen Infusionsbehandlung der Firma Biogen Idec therapiert, die für Patienten eingesetzt wird, die trotz Spritzen Krankheitsschübe bekommen. Der Wirkstoff ist der monoklonale Antikörper Natalizumab, der verhindert, dass die Abwehrzellen aus dem Blut ins Gehirn wandern und Entzündungen verstärken. Berger wählt seine Patienten genau aus, und kann mit extrem guten Ergebnissen aufwarten: Bei allen Behandelten wurden in vier Jahren insgesamt nur drei Schübe beobachtet.

Diese Daten klingen verlockend. Warum also die Infusion, die nur einmal im Monat verabreicht wird, nicht für mehr Betroffene einsetzen? Etwa jeder tausendste Patient bekommt eine gefährliche Virusinfektion des Gehirns (progressive multifokale Leukenzephalopathie). Aus diesem Grund musste der Hersteller den Antikörper 2005 schon einmal vom Markt nehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2011)

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