»Man muss die Krankheit von der Person trennen«

Autor Arno Geiger schrieb über die Demenz seines Vaters ein Buch. Er hat gelernt, damit umzugehen.

Wie haben Sie die Alzheimer-Erkrankung Ihres Vaters mental verarbeitet?

Arno Geiger: Ich wollte das anfangs nicht wahrhaben und konnte es nicht fassen. Es kam mir widernatürlich vor, dass mein Vater plötzlich die einfachsten Dinge nicht mehr kann. Erst später habe ich widerwillig zugelassen, dass es so ist. Es war eine Entwicklung vom Schock über das Sichhineinfinden zu einem Umgang mit der Situation.

Als Kind hält man seine Eltern ja für besonders stark. Wie geht man damit um, wenn sie plötzlich so schwach sind?

Das Schwierige daran ist, dass man auch selber schutzloser wird. Weil es tief in uns steckt, dass unsere Eltern uns beschützen. Und die Erkenntnis, dass das irgendwann nicht mehr so ist, macht einen verwundbar.


Das Umgehen mit so einer Krankheit kann die Familie aber zusammenschweißen.

Es ist sicher nicht ganz selbstverständlich. Aber im besten Fall rückt die klassische Familie in der Krise zusammen. Und plötzlich ist dieses Reservoir Geschwister wieder da, auf das man jahrelang nicht zurückgreifen musste. Da ist es schön gewesen zu sehen: Auf meine Geschwister kann ich mich verlassen.

Sie schreiben, dass die Diagnose Alzheimer eine Erleichterung war.

Ja, weil wir letztlich gegen die Person angerannt sind, dann haben wir gewusst, wir haben es mit der Krankheit zu tun. Das ist der Gegner. Das „Reiß dich zusammen“ und „Du interessierst dich nicht für mich“, weil er sich nichts mehr gemerkt hat, hat letztlich der Krankheit eher Nahrung geboten. Darum ist es wichtig gewesen, dass ein Umkehrprozess stattgefunden hat.


Haben Sie manchmal das Gefühl, dass die Person, die Ihnen gegenübersteht, nicht Ihr Vater ist, sondern die Krankheit?

Für mich ist es wichtig, dass ich versuche, die Person und die Krankheit zu trennen. In Momenten der Überforderung, wenn er desorientiert und hilflos ist, und das in ruppigen Gesten herauskommt, habe ich das Gefühl, die Krankheit nimmt mir meinen Vater weg. Aber wenn es gut läuft und er ausstrahlt, dass er sich wohlfühlt, habe ich manchmal blitzartig das Gefühl, der Albtraum ist vorbei. Da gibt es Momente von ganz tiefer Trauer und Glück nebeneinander.

Es gibt ja den Punkt, wo man nicht mehr rational spricht, wie Sie schreiben, sondern dem Kranken nur mehr zustimmt.

Da geht es einfach um die Anerkennung der Welt, in der mein Vater lebt. Es ist seine Welt, er hat keine andere. Er kann nicht mehr herüber zu mir, das erzeugt nur Schrecken und Elend. Aber ich kann mich an seine Seite stellen – in seiner Welt. Und wenn er sagt, seine Mutter wartet im Haus auf ihn, bestätige ich ihn. Denn wenn ich ihm ständig sagen würde, dass alles, was er sagt, falsch ist, würde er ja wahnsinnig werden.

Wie wohl sich jemand fühlt, hängt ja viel mit der Betreuung zusammen.

Wir hatten das Glück, dass Daniela, eine seiner Betreuerinnen, großartig war. Das war auch das Pech, als er ins Heim musste, denn er hat sie so gemocht und sie ihn auch. Und sobald sie nach Hause in die Slowakei gefahren ist, hat ihm etwas gefehlt.

Hat er Daniela erkannt oder war es ihr Umgang mit ihm? Er verwechselt ja, wie Sie schreiben, zum Teil sogar seine eigenen Kinder.

Er erkennt die eigenen Kinder sehr gut als ihm vertraute Menschen. So viel er vergisst – und er vergisst sehr viel –, er vergisst nicht, wen er mag. Auch nicht, wen er nicht mag. Wenn Daniela ihn gefragt hat, wie sie heißt, hat er gesagt: „Liebes Fräulein.“ Da hat sie gesagt, „Ich heiße Daniela, das hast du vergessen.“ Da hat er gesagt, „Ja, ich glaube, ich lern's nicht mehr“. Da gibt es ein enges Nebeneinander von Fähigkeiten, Kompetenzen und unglaublichen Fehlstellen. Dass er etwa das Zuhause nicht erkennt. Aber dann klug darüber redet, was das Zuhause ist. Und man denkt, jemand, der ein solches Gefühl für Nuancen hat, wird doch sein eigenes Wohnzimmer erkennen. Aber da stößt man an die Grenzen der Logik.

Gibt es Persönlichkeitsmuster, die Sie für typisch bei Alzheimer-Patienten halten?

Sie bleiben individuelle Menschen. Mit allen Eigenschaften, Defiziten und eigenem Umgang. Es gibt natürlich im Krankheitsbild Ähnlichkeiten, aber die Frage ist, wie reagiere ich darauf. Also wie groß ist die Angst, die jemand in der Verlorenheit empfindet. Oder wie groß die Gelassenheit, die jemand angesichts dieses Schicksals besitzt. Irgendwann habe ich entdeckt, dass mir mein Vater in manchen Aspekten verloren geht, aber dass die Person noch da ist. Das zu realisieren war auch wieder schön. Das ist August Geiger, das ist die ganze Person.

Aber der Person fehlen Erinnerungen – gibt es da bestimmte?

Ich habe keine Gesetzmäßigkeiten gefunden, dass ich sagen könnte, mein Vater vergisst nur dieses und jenes. Die seltsamsten Dinge weiß er plötzlich, aber die naheliegendsten kann er nicht mehr. Das ist ein Regime der Willkür im Gehirn.

Sie als Schriftsteller können solche Dinge in Worte fassen. Was raten Sie Leuten, die dieses Ventil nicht haben?

Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und letztlich kann ich die Krankheit nicht ändern, nur meine Einstellung dazu. Insofern bin ich mittlerweile auch so weit, dass ich sage: Ja, ich bin glücklich über die schönen Momente, die wir noch haben. Und die will ich auch nicht mehr hergeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2011)

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