Sind Kinder heute öfter krank?

(c) Erwin Wodicka
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Bis zu zwölf Infekte pro Jahr im Vorschulalter sind normal. Doch oft werden sie nicht ausgeheilt und schleppen sich über Wochen hin. Große Sorgen macht die zunehmende Adipositas.

Philipp hatte Husten, Schnupfen, wieder Husten, eine Halsentzündung, etwas mit den Ohren, manchmal mehr Fieber, manchmal weniger. Insgesamt fünf Wochen dauerte dieser Infekt- und Verkühlungsmarathon. „Ich war so froh, als das endlich vorbei war“, sagt seine Mutter. „Endlich war er wieder ganz gesund, konnte wieder hinausgehen.“ Und natürlich zurück in den Kindergarten. Allerdings nicht sehr lange. Zwei Tage später lag Philipp wieder im Bett, mit einer Magen-Darm-Grippe.

Philipp und seine Mutter sind nicht die Einzigen, die immer wieder solche Phasen durchmachen. Daher ist Philipps Mutter auch nicht die Einzige, die den Eltern in ihrem Bekanntenkreis entnervt die Frage stellt: Sind Kinder heute eigentlich kränker als früher?

Frühere Ansteckung. Die mussten ihr die Antwort allerdings schuldig bleiben. Was kein Wunder ist, denn auch Kinderärzte und Epidemiologen sind in dieser Frage noch zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Bis auf zwei Dinge: Erstens werden die Krankheiten kleinerer Kinder aufgrund der veränderten Lebensumstände wie etwa der früheren Fremdbetreuung heute intensiver erlebt. Und zweitens sind Kinder „anders“ krank als früher. Vor allem die „Lebensstilerkrankungen“ wie Adipositas oder Diabetes sind auf dem Vormarsch.

„Kinder im Kindergartenalter haben vier bis zwölf Infekte im Jahr“, sagt etwa der Wiener Kinderarzt Rudolf Schmitzberger. „Was sich geändert hat, ist die subjektive Wahrnehmung.“ Dadurch, dass Kinder heute viel früher in die Krippe oder in den Kindergarten kommen, werde auch das Immunsystem früher herausgefordert. „Das ist an sich ja nicht schlecht“, meint Schmitzberger. „Das Problem ist nur, dass nicht viele Eltern Zeit und Muße haben, diese Infekte auch wirklich ausheilen zu lassen. Kaum ist das Kind einen Tag fieberfrei, geht es schon wieder in den Kindergarten. Da gibt es keine Zeit für Erholung, und die Kinder rutschen von einem Infekt in den nächsten.“

Summe der Infekte bleibt gleich.
Eine längere Erkrankung wird von Eltern daher oft als eine Abfolge verschiedener Infekte empfunden, glaubt auch der Vorstand der Kinder- und Jugendabteilung am Landesklinikum St. Pölten, Karl Zwiauer. „Die Summe der Infekte im Säuglings- und Kleinkindalter ist ungefähr gleich geblieben“, sagt er. „Was ein Kind im ersten Jahr nicht abbekommt, weil es gestillt wird, das holt es dann eben im zweiten Lebensjahr nach.“ Aber selbst ohne Anstieg könne da einiges zusammenkommen: „Bis zu zwölf Infekte im Jahr, jeweils zwei Wochen, da ist man schon beschäftigt.“

Die gute Nachricht: Rund ums Erreichen des Schulalters wird's wieder besser. Doch die Fragen, ob die relativ frühe Herausforderung des Immunsystems durch den Kindergarten langfristig eine gute oder eine schlechte Sache ist und ob Kinder, die vor dem Schuleintritt häufiger krank waren, später widerstandsfähiger werden, bleiben offen.

Auch die Epidemiologen können mit keiner schlüssigen Antwort aufwarten, ob Kinder heute mehr krank sind als früher. Klar sei, dass es viele Kinderkrankheiten, die früher tödlich verliefen, heute kaum oder gar nicht mehr gebe, meint der Sozialmediziner und Epidemiologe Gerald Haidinger. Gleichzeitig bedeute eine bessere Medizin aber eben auch eine bessere Diagnostik. „Früher hat man viele Dinge einfach nicht gewusst“, sagt er. „Da hatten die Kinder auf dem Land halt ,Grätzn‘. Heute weiß man, es ist Neurodermitis. Das war es damals aber möglicherweise auch schon.“


Dicke Sorgenkinder. Schlechter steht es hingegen um andere Krankheitsformen, die unter Kindern immer mehr um sich greifen – allen voran die sogenannten Lebensstilerkrankungen, hervorgerufen durch falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. „Auch Adipositas (Fettleibigkleit) ist eine Krankheit“, sagt Schmitzberger. „Und die hat definitiv zugenommen.“ Damit einher geht etwa eine Verdoppelung von Diabetes mellitus Typ 1 bei Kindern. 3500 Kinder in Österreich leiden laut der Österreichischen Diabetes Gesellschaft bereits an dieser Stoffwechselerkrankung – doppelt so viele wie im Jahr 1999. „Das zieht einen Rattenschwanz von anderen gesundheitlichen Problemen nach sich und wird uns noch unglaublich viel Geld kosten“, fürchtet Schmitzberger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2011)

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