Die Angst vor der Befreiung

Die Entscheidung ist gefallen: Johanna Mikl-Leitner übernimmt den Landeshauptmann-Sessel von Erwin Pröll.
Die Entscheidung ist gefallen: Johanna Mikl-Leitner übernimmt den Landeshauptmann-Sessel von Erwin Pröll.(c) APA (SCHNAbl Gerhard)
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Das St.-Pölten-Syndrom unterscheidet sich vom Stockholm-Syndrom nur darin, dass man sich in Niederösterreich freiwillig, ja sogar mit absoluter Mehrheit in Geiselhaft begibt.

Erwin Pröll ist ein hervorragender Anekdotenerzähler. Eine seiner Lieblingsgeschichten ist jene vom kleinen Erwin aus Radlbrunn, der von einem russischen Besatzungssoldaten eine Tafel Schokolade bekommen hat. Stolz habe er sein Geschenk seinen Eltern gezeigt und daraufhin eine „mordstrumm Watsch'n“ abgefangen. Seitdem wusste der kleine Erwin: „Von den Roten nimmt man keine Geschenke an.“

Keiner kann sich so köstlich über Erwin Prölls Geschichten amüsieren, wie Erwin Pröll selbst. Und natürlich erzählt der Landeshauptmann diese Geschichte aus der Nachkriegszeit nicht nur aus reiner Gaudi. Im ganzen Land ist sonnenklar, von wem man nimmt und wovon man besser die Finger lässt.

Dieses Niederösterreich ist kein Land, es ist ein in vier Viertel zerrissenes Etwas mit einem Loch in der Mitte. Dieses Loch namens Wien war und ist noch immer verhasst, vor allem, weil man davon abhängig ist. Dieses Niederösterreich hatte lange Zeit nicht viel zu bieten. Wein- und Waldviertel galten seit jeher als die ärmsten Regionen Österreichs. Nur bei der Zahl der Leberzirrhosen war das niederösterreichische Grenzland Nummer eins. Die tote Grenze prägte die Mentalität. Einzig die Gewissheit, dass es denen da drüben in der Tschechoslowakei noch schlechter gehen müsse, half über die wirtschaftliche und soziale Misere hinweg.

Wer in der Peripherie einen Job will, wer nicht täglich in die Großstadt pendeln möchte, braucht Beziehungen. „Beziehungen schaden nur jenem, der keine hat.“ Nirgendwo hat dieser Satz so große Gültigkeit wie im weiten Land. Und noch heute brüstet sich der Bezirksparteiobmann am Stammtisch. „Ich hab alle untergebracht.“


Ohne Schieber geht nichts

In der Volksschule, im Landespflegeheim, in der Bank oder als Reinigungskraft in der Bezirkshauptmannschaft. Wer tatsächlich behauptet, die Politik schaffe keine Arbeitsplätze, war nie in Hollabrunn, Mistelbach oder Zwettl. „Hast du keinen Schieber?“ Ohne Schieber wird's nämlich schwierig, fast schon unmöglich.

Johanna Mikl-Leitner hatte einen sehr guten Schieber. Erwin Pröll erkannte schnell ihren Ehrgeiz, Fleiß und unbändigen Willen, sich nach oben zu arbeiten. Die HAK-Lehrerin aus dem Weinviertel avancierte zur ÖVP-Landesparteisekretärin, Landesgeschäftsführerin, Ministerin – und bald wird sie Landeshauptfrau sein. Vor einigen Jahren war Mikl-Leitner – damals Innenministerin – auf Besuch in der „Presse“. In geselliger Runde wurde sie gefragt, ob sie sich denn auch einen anderen Ministerposten vorstellen könne. „Ich nehm ois“, antwortete sie scherzhaft.

Jetzt bekommt sie „ois“ als Dank für ihre uneingeschränkte Loyalität. Und diese Loyalitätsbekundungen konnten mitunter ungeheuer banal sein. So wird erzählt, dass der Landeshauptmann „die Hanni“ eines Tages anruft und sagt: „Komm rüber, wir haben eine Riesenhetz.“ Und tatsächlich war es für die amtierende Innenministerin überhaupt kein Problem, ihren Terminkalender auszuräumen und binnen 30 Minuten zu erscheinen, um am frühen Nachmittag mit Erwin Pröll und anderen Vertrauten in einem Wiener Restaurant noch ein paar Gläschen zu trinken.


Gulasch ohne Saft

Es ist durchaus amüsant zu beobachten, dass die Landeshauptstadt St. Pölten heute mit Erwin Pröll assoziiert wird. Dabei war es Prölls Vorgänger, Siegfried Ludwig, der Wien den Rücken kehrte. Ludwig befand, dass ein Land ohne Landeshauptstadt wie ein Gulasch ohne Saft schmeckt.

Pröll nahm das Erbe an, übersiedelte von Wien nach St. Pölten. Aber er wusste: Viel mehr als eine eigene Hauptstadt brauchen die Menschen im weiten Land das Gefühl, dass sie nicht am Arsch der Welt zu Hause sind, mag dieser Arsch auch noch so schön sein. Im Schatten von Ludwigs gigantomanischem Hauptstadtprojekt schuf Pröll die „Dorferneuerung“. Anfangs bedeutete dies nicht mehr als Verschönerungsvereine. Da wurden Blumenkistchen aufgestellt, Kapellen renoviert. Plötzlich gab es überall im Land die gleichen Gehsteige, die gleichen mit Pflasterstein eingefassten Grünflächen, Kinderspielplätze wurden errichtet und – von Pröll – eröffnet und gefeiert. Dieser ländliche Beauty-Contest trieb – im wahrsten Sinne des Wortes – oft seltsame Blüten. Der schmucke Ort Unterstinkenbrunn etwa wurde vorübergehend in Gartenbrunn umbenannt. Aber die „Erneuerung“ wirkte. Jeder baute sich seinen Nabel der Welt – und Erwin Pröll gab dafür das Geld.

Wenn der Landeshauptmann durch sein Land geht, dürfen in seinem Tross zwei Personen nicht fehlen. Die eine ist sein Fotograf. Er fotografiert nicht nur, wenn Pröll am Rednerpult steht, die Blasmusikkapelle dirigiert oder eine Urkunde überreicht. Er ist zur Stelle, wenn der Landeshauptmann sich mit seinen Landsleuten unterhält. Dann wird ein Foto gemacht, das wenige Tage später in einem amtlichen Kuvert säuberlich adressiert im Postkasten landet.

„Alles Gute, Erwin Pröll“ steht mit grünem Filzstift geschrieben auf dem Erinnerungsfoto. Tausende, was heißt hier Tausende, Hunderttausende im weiten Land werden dieser Tage an „ihr Foto mit dem Landeshauptmann“ gedacht, es vielleicht sentimental hervorgekramt haben. Vielleicht aber auch nicht.

Aber am volksverbundensten ist der Landeshauptmann, wenn er die zweite Person konsultiert, die in seinem Tross nicht fehlen darf. Jene nämlich, die geflissentlich die Wünsche, Sorgen und Bitten notiert, die an den Landesvater herangetragen werden. Vielleicht hat es nur den Anschein, gut möglich, dass es wahr ist, aber in diesem Land gibt es immer einen, der einen kennt, dem der Erwin Pröll persönlich geholfen hat.

Und diese „Dr. Erwin Pröll Privatstiftung“, die jetzt so ins Gerede gekommen ist? War sie nicht vor allem dafür gedacht, dem Landeshauptmann – pardon, Altlandeshauptmann – weiterhin die Möglichkeit zu geben, mit Fotograf und Sorgennotierer durchs Land zu ziehen und – wie eh und je auf Staatskosten – Gutes zu tun? War doch schon immer Steuergeld, oder hat irgendwer geglaubt, es stamme vom Schatz im Silbersee?

Kein Schatz im Silbersee

Erwin Pröll ist ein hervorragender Anekdotenerzähler. Wenn er eine Anekdote am liebsten zum Teufel wünscht, dann jene vom „Schatz im Silbersee“. Es sei das einzige Buch gewesen, das er gelesen habe. Die Häme war groß. Nur sein damaliger politischer Ziehsohn Ernst Strasser fand nichts dabei. Die Leute könnten „Oberg'scheite“ ohnehin nicht leiden, meinte er.

Während sich die Wiener Medien-Schickeria über Prölls Privatstiftung ereifert, passiert in St. Pölten rein gar nichts. In der niederösterreichischen SPÖ traut man sich laut „Falter“ offenbar nicht einmal, „off the record“ zu reden. Die FPÖ überlegt noch, ob sie etwas sagen soll oder nicht.

Der Kitt, der in diesem Land alles zusammenhält, heißt Macht. Man kann getrost von einem St.-Pölten-Syndrom sprechen. Im Gegensatz zum Stockholm-Syndrom begibt man sich aber im weiten Land freiwillig, mit absoluter Mehrheit in Geiselhaft. Und alle fürchten sich vor der Befreiung.

Wechsel

Erwin Pröll. Seit 1992 war Erwin Pröll Landeshauptmann in Niederösterreich. Nun hat er seinen Rücktritt für März angekündigt. Pröll hat nicht nur in seinem Bundesland regiert, sondern hatte auch entscheidenden Einfluss auf die Bundes-ÖVP. Im Vorjahr sollte er als Kandidat für die Bundespräsidentschaftswahl ins Rennen gehen, verzichtete aber im letzten Moment.

Johanna Mikl-Leitner. Prölls Nachfolgerin ist in der Landes-ÖVP groß geworden. 2011 wechselte sie als Innenministerin in die Bundespolitik, im Vorjahr holte Pröll sie als Landeshauptmannstellvertreterin zurück nach Niederösterreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2017)

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