Graz, die Hauptstadt der Provinz

Das Kunsthaus ist von außen ein gern fotografiertes Must-have-seen, aber die Zahl der Grazer, die es schon einmal von innen gesehen haben, ist überschaubar.
Das Kunsthaus ist von außen ein gern fotografiertes Must-have-seen, aber die Zahl der Grazer, die es schon einmal von innen gesehen haben, ist überschaubar.(c) Harald Jahn / picturedesk.com
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Graz ist der Nabel des nichturbanen Österreich, Hochburg der Wechselwähler und unberechenbare kulturelle Größe. Heute wählen die Bewohner der zweitgrößten Stadt des Landes ihren Gemeinderat. Eine Stadtvermessung.

Der Dramatiker Wolfgang Bauer, der vor 40 Jahren das damals prononciert konservative Bürgertum gerne mit Fäkalsprache auf der Bühne verschreckte, urteilte über Graz vergleichsweise mild: „Fern liegt Graz im Dunst. Seine Größe ist unbestimmt. Eine verschwommene Wolke, die alles erwarten lässt. Prunkstadt, Residenzstadt, Industriestadt, erloschene Stadt? Was könnte das sein?“

Darüber rätselt man noch heute. Erloschen ist die Stadt nicht, aber als verschwommene Wolke kann man sie fürwahr bezeichnen. Und das nicht nur wegen des ewigen Feinstaubs in der südsteirischen Inversionswetterlage. Auch nicht nur, weil der heutige Wahlsonntag von gesottenen Profis eher mit dumpfer Ahnung als mit berechneter Gewissheit erwartet wird. Sondern vor allem, weil Graz im Spannungsfeld zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen Land und Stadt, zwischen Tradition und Moderne oft nur unscharfe Konturen zeigt.

Graz ist die zweitgrößte Stadt des Landes, somit die größte neben Wien, die Hauptstadt des Nichturbanen, der Nabel der Provinz. Im großen, gelungenen Jahr 2003 trug man das Etikett „Kulturhauptstadt Europas“. Das war die Geburtsstunde des modernen Graz, oder besser: eine Renaissance jenes kulturell-geistigen Vorpostens, den die Stadt in den frühen 1970er-Jahren relativ aufsehenerregend verkörpert hatte. Graz war damals tatsächlich Herausforderung an Wien, Inbegriff einer progressiv verfassten Landmarke jenseits der Metropole. Jazz, Literatur und Wissenschaft gaben sich im „Forum Stadtpark“ oder an der Kunsthochschule ein Stelldichein.

Das alles war nahezu erloschen und wurde 2003 reanimiert. Unter der Ägide von Intendant Wolfgang Lorenz entfaltete sich ein 365-Tage-Stadtfest als Initialzündung für den Sprung ins neue Jahrtausend. Das Kunsthaus, der „Dom im Berg“, die Murinsel von Vito Acconci – Graz wuchs über sich hinaus. Wenn Provinz kein Ort, sondern ein Zustand ist, dann wurde sie in diesem Jahr zumindest temporär überwunden.


Unis, Wirtschaft und Schulden. Manche Triebe der damals gepflanzten Saat sind prächtig aufgegangen, andere darben schon wieder vor sich hin. Zu den aufstrebenden Kraftfeldern zählen die Unis und Fachhochschulen: Graz zählt fast 60.000 Studenten, im letzten Jahrzehnt wurden Hochschulbauten um fast eine Milliarde Euro aus dem Boden gestampft. Es sind Flaggschiffe entstanden wie etwa der Campus der Med-Uni.

Auch wirtschaftlich ist Graz ein guter Boden, fast 200.000 Arbeitsplätze gibt es in der Stadt. Die Bevölkerung des Zentralraums legte im letzten Jahrzehnt um 10,4 Prozent zu. Leuchttürme wie die Maschinenfabrik Andritz, das Magna-Autowerk im Grazer Süden oder die High-Tech-Schmiede AVL List sorgen für hohe Wertschöpfung. Jene 120 Millionen Euro an Kommunalsteuer, die im Vorjahr in die Stadtkasse flossen, sind ein historischer Spitzenwert.

Umso schmerzhafter ist das Unvermögen der Politik, die Stadt aus dem Strudel überbordender Schulden zu befreien. Ob man den offiziellen Wert von 1,1 Milliarden Euro an Grazer Außenständen nimmt oder die wohl realistischere Marke von 1,3 Milliarden, macht wenig aus. In jedem Fall übertrifft Graz mit Pro-Kopf-Schulden von mehr als 4500 Euro deutlich die Vergleichswerte in Wien (3000 Euro) oder im steirischen Landeshaushalt (3400). Das ist zum Teil der Preis für ein veraltetes Regierungssystem mit einer Allparteien-Proporzregierung. Jede Partei, die mehr als rund 15 Prozent der Stimmen erzielt, sitzt im Stadtsenat und feilscht ums Steuergeld.


Ein blauer roter Faden. Den Touristen, die zahlreich in die Grazer Innenstadt strömen und fast ganzjährig das milde Klima genießen, ist das freilich einerlei. Der Fremdenverkehr boomt – das gilt zwar für viele Städte, doch die früher international fast unbekannte Destination Graz hat sich hartnäckig in die vordere Liga gekämpft. Mehr als 1,1 Millionen Nächtigungen zählte man 2016, ein Plus von 4,2 Prozent. Der neue Rekord verleitete flugs zum Träumen: Die Zwei-Millionen-Marke sei „keine Utopie mehr“, beschied der Wirtschaftsstadtrat.

Dass die Grazer Altstadt mit ihrer Dachlandschaft zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, sorgt bei Dachausbauten regelmäßig für Wirbel, bescherte dem Tourismus aber fraglos Rückenwind. Obwohl einiges an Gerümpel im Stadtbild herumsteht, nennt man sich stolz „City of Design“, ohne dass dies irgendwer sinnfällig erklären könnte. Dafür gibt es reichlich Action: Von der „Polaroid Foto Tour“ über Segway-Rundfahrten auf zwei Rädern bis zur „Mur-Tour“ im Neoprenanzug wird alles geboten.

Die Mur ist sowieso seit alters her ein blauer roter Faden im Stadtgeschehen - Projektionsfläche für Sehnsüchte, Reklametafel für politische Profilierung und schlichter Erholungsraum zugleich. Vor Jahrzehnten war sie eine übel riechende und beleumundete Kloake, verdreckt durch die obersteirische Papierindustrie, vernachlässigt von naserümpfenden Bürgern. Ein halbes Glas Murwasser sei tödlich, haben wir noch als Kinder gelernt. Das war Angstlust pur.

Dann kam die Umweltbewegung. Die Grünen wurden 1982 in Graz gegründet. Nicht deshalb, aber doch in diesem Zeitgeist-Zusammenhang, wurden die Filteranlagen der Papierfabriken besser, die Mur immer sauberer. Bis zur Jahrtausendwende wusste die örtliche Politik mit dem neuen Freizeitglück nichts Rechtes anzufangen. Erst dann wurden einige Uferwege angelegt, begleitet von Projekt-Hirngespinsten. Legendär etwa die von Bürgermeister Siegfried Nagl propagierte „Murgondel“, die das p.t. Publikum am öden Stau vorbei sanft und umweltgerecht von Nord nach Süd und zurückbringen sollte.

Geschehen ist nichts, und die Grazer haben mittlerweile den Wert des Wildwuchses als etwas Schützenswertes entdeckt. Das hätte ewig so weitergehen können. Doch nun hat die Landes-Energiefirma doch mit dem Bau eines Murkraftwerkes am südlichen Stadtrand begonnen. Man verheißt ein Freizeitparadies an gestylten Ufern, die viele gar nicht mehr wollen. Es regt sich heftiger Protest, es geht jetzt um jeden Baum, es drohen Zustände wie einst in der Hainburger Au. Nur halt auf Grazerisch: Da kettet sich niemand in den Flussauen an, sondern man postet auf Facebook.

Die Relikte des großen 03er-Kulturjahres liegen großteils in Murnähe. In gutem Zustand sind sie nicht: Die Murinsel rostete jahrelang vor sich hin, derzeit wird sie um eine Million Euro saniert und „kulturell aufgewertet“, wie es heißt. Das Kunsthaus ist von außen ein gern fotografiertes Must-have-seen, aber die Zahl der Grazer, die es von innen gesehen haben, ist überschaubar.

Diesjähriger Jahresschwerpunkt sei „der Umbau des Foyers“, erfährt man allen Ernstes auf der Homepage. Ausstellungen wie „Geknetetes Wissen – Die Sprache der Keramik“ locken nur bedingt die Massen. Wären die Türen plötzlich verschweißt, würden das zunächst wohl nur die Schulklassen merken, die gern durchgeschleust werden.


Zukunft liegt im Westen. Eine maßvolle Belebung ist am Schlossberg gelungen, jenem Herzen der Stadt, das lange ebenfalls im Dornröschenschlaf lag. Dort gibt es jetzt moderne Gastronomie, ein „Uhrturmlift“ führt bis zu dem Wahrzeichen und erspart den sportlichen Weg über die 260 Stufen des Kriegssteigs, der im Winter oft gesperrt ist. Die revitalisierte Kasemattenbühne auf dem 473 Meter hohen Hügel verleiht der Stadt in Sommernächten eine romantische Aura.

Doch die Grazer Zukunft liegt im Westen. Dort entsteht gerade die ehrgeizig geplante „Smart City“, ein neuer Stadtteil in Bahnhofsnähe. Herzstück ist der 60 Meter hohe „Science Tower“, der heuer fertig wird und der Erforschung von Ökotechnologien dienen soll. Als „mit Abstand innovativstes Gebäude in Österreich, vermutlich sogar in ganz Europa“ preist es der Bauherr. Drumherum soll es Ruhezonen, Spiel- und erlebbare Wasserflächen geben – ein neues Stadtgefühl.

Ganz ähnlich laufen die Planungen für das Projekt Reininghaus: Auf dem brach liegenden Industrieareal der früheren Brauerei soll ein 52 Hektar großes Stadtgelände mit Büro- und Wohnquartieren entstehen. Die Investorensuche verlief turbulent, und noch ist nicht ganz klar, wie und wann die neuen Stadtteile an das Straßenbahnnetz angebunden werden. Der Verkehr bleibt nämlich die Achillesferse. Zuletzt wurden 27 Millionen Euro für eine groteske Mini-Verlängerung der Tramlinie 7 ausgegeben, die seit jeher zum Landeskrankenhaus fuhr, jetzt aber auch die Rückseite der dortigen Tiefgarage anfährt.


Klein, aber bunt. Aber die Grazer wissen sich zu helfen. Die Stadt gilt als Hochburg der Wechselwähler, und dieses Etikett tragen die 282.000 Bewohner mit Stolz: Ihre Stadt ist klein, aber bunt. Bei der Gemeindewahl 2012 lag die ÖVP vorne, kurz darauf bei der EU-Wahl die Grünen, bei der Landtagswahl die SPÖ und bei der Nationalratswahl am Wahlabend die FPÖ. Die KPÖ stellt mit 20 Prozent als zweitstärkste Partei die Vizebürgermeisterin. Im Zusammenspiel mit dem christlich-konservativen Bürgermeister Nagl ist das ein zarter Hauch von „Don Camillo und Peppone“ auf Steirisch. Vor allem aber ein Tohuwabohu für Trendforscher, die auch am heutigen Wahlabend ins Schwitzen kommen werden.

AUTOR

Ernst Sittinger, geboren 1966 in Graz, ist Mitglied der Chefredaktion der „Kleinen Zeitung“. Von 1995 bis 2006 war er Redakteur der „Presse“.

Die Grazer wählen heute ihren neuen Gemeinderat. Zur Wahl stehen ÖVP, KPÖ, SPÖ, FPÖ, Grüne, Piraten, Neos und drei unabhängige Listen.

Ab 17 Uhr berichtet DiePresse.com über erste Hochrechnungen. Das vorläufige Endergebnis sollte um 19 Uhr vorliegen.
?APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2017)

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